Schwarzer Donnerstag am Freitag

Vor einem Jahr: Brutaler Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Gegner / Volksentscheid kommt

  • Lesedauer: 3 Min.
Von Gesa von Leesen, Stuttgart

Genau heute vor einem Jahr eskalierte der Konflikt um Stuttgart 21. Als »schwarzer Donnerstag« ging der Tag des massiven Polizeieinsatzes gegen Demonstranten im Stuttgarter Schlossgarten in die Protestgeschichte ein. Der Tag hatte Folgen. Nicht nur für diejenigen, die verletzt wurden. Politisch war er Anlass für die Schlichtung mit Heiner Geißler, er trug dazu bei, dass die CDU abgewählt und der Grüne Winfried Kretschmann Ministerpräsident wurde und dass nun die erste Volksabstimmung in Baden-Württemberg bevorsteht. Erinnert wird an den Jahrestag mit einem »Bürgertribunal« und einem Schweigemarsch.

Blutende Demonstranten, mehrere Hundertschaften Polizisten mit Wasserwerfer, Pfefferspray und Gummiknüppel – als die Bilder vom Polizeieinsatz des 30. September 2010 durch die Medien liefen, war die Republik erstaunt bis geschockt. Ausgerechnet im braven Schwabenland hatte die Staatsmacht die Zähne gezeigt. Eigentlich sollten die Hundertschaften an jenem Tag nur einen Bauzaun aufstellen, um so das Fällen von mehreren alten Bäumen zu gewährleisten. Diesen Platz brauchte die Bahn AG für das Grundwassermanagement, das für den Umbau des Stuttgarter Kopfbahnhofes in einen unterirdischen Tiefbahnhof benötigt wird. Dass die Gegner von Stuttgart 21 damals massenhaft über SMS alarmiert in Kürze vor Ort waren, überraschte die Einsatzkräfte. Am Ende stand zwar der Zaun und Bäume fielen, aber am Ende standen auch verletzte Polizisten sowie etwa 400 verletzte Demonstranten. Und es entstand ein immenser Vertrauensverlust in Polizei, Justiz und Politik.

Vor allem dies erschüttert den ehemaligen Richter und Staatsanwalt Dieter Reicherter. Der Stuttgarter engagiert sich in der Protestbewegung und hat dabei eine Unmenge Geschichten darüber gehört, wie Demonstranten vor Gericht landeten, Anzeigen gegen Polizisten aber verschleppt wurden. »Ich finde das schrecklich«, sagt Reicherter und hat deswegen den Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) aufgefordert, die Ermittlungen rund um Stuttgart 21 der Stuttgarter Staatsanwaltschaft zu entziehen. Um faire Ermittlungen zu gewährleisten, müsse eine Staatsanwaltschaft eines anderen Landgerichtsbezirks beauftragt werden. Dies fordert auch die Rechtsanwaltskanzlei Mann & Müller aus Freiburg vom Justizminister. Rechtsanwalt Frank Mann vertritt etwa 30 Stuttgart-21-Gegner, darunter auch die vier Schwerverletzten. Für sie habe er Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben. Inhalt: Der Polizeieinsatz war rechtswidrig. Mann: »Denn der Einsatz war völlig unverhältnismäßig.« Von mehreren Strafanzeigen gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt habe er »bis heute keinerlei Informationen über den Stand der Ermittlungen.« Gleichzeitig jedoch erlebe nicht nur er, mit welcher Akribie und Emsigkeit die Staatsanwaltschaft versuche, Demonstranten zu verfolgen. »Wir sehen deutlich ein Ungleichgewicht in den Ermittlungen. Das ist nicht hinzunehmen.«

Frust und Wut über die einseitige Arbeit der Staatsanwaltschaft äußern auch drei der Schwerverletzten, die den Jahrestag nutzen, um vor der Presse ihre Einschätzung der Lage abzugeben. Der Bekannteste von ihnen ist Dietrich Wagner. Das Foto des aus den Augen blutenden Rentners war zum Symbol für den Polizeieinsatz geworden. Heute ist Wagner fast blind. Doch auch die gelbe Binde mit den drei schwarzen Punkten und sein Blindenstock halten ihn nicht vom Engagement ab. Für ihn ist der 30. September ein »Verbrechen des Staates«.

Bei aller Enttäuschung über die Justiz könne die Anti-S21-Bewegung aber auch stolz sein, befindet Matthias von Herrmann, Sprecher der Parkschützer. Es sei den vielen »Mutbürgern« zu verdanken, dass man für alle offensichtlich gemacht habe: »Stuttgart 21 ist gescheitert. Es geht jetzt nur noch darum, wer das Scheitern zugibt, wer nun sagt: Der Kaiser ist nackt.«

Ganz so sieht es in der Realität zwar nicht aus, aber immerhin: Am Mittwochabend hat der baden-württembergische Landtag den Weg frei gemacht für die Volksabstimmung am 27. November. Dann sind die Baden-Württemberger aufgerufen, abzustimmen, ob sie für das Gesetz zum Ausstieg des Landes aus der Finanzierung von Stuttgart 21 sind oder dagegen. Wer will, dass das Land aus dem 4,1 Milliarden Euro Projekt aussteigt, also gegen Stuttgart 21 ist, muss mit »Ja« stimmen, wer für S21 ist, kreuzt »Nein« an.

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