Leben ist tödlich
Frank Castorf inszeniert Dostojewskis »Spieler« an der Volksbühne Berlin
Die Null beherrscht die Welt. Ground Zero. Der Punkt, von dem alles ausgeht und wo alles aufschlägt. Das Nichts. Wo Erwartung und Entzauberung gemeinsam über jene Verlässlichkeit des Menschen grinsen, mit größter Inbrunst beides zu verwechseln – die Hoffnung mit der Illusion, die Entfesselung mit der Selbstaufgabe, die Befreiung mit dem Absturz. Auf »Zéro« zu setzen, hallt wie ein erstes Gebot durch dieses kreischende Wesen Inszenierung: »Der Spieler«, von Fjodor Dostojewski und Frank Castorf (Bühne Bert Neumann) – an Berlins Volksbühne ein fast fünfstündiges Hetzen durch die Not, im Weltall eine Tür zur Erfüllung zu finden und sie hinter der Welt zuzuschlagen. Es wird in Baden-Baden gezockt, es wird geliebt bis zur Selbstzerstörung; es wird der Tod der alten reichen Tante herbeigesehnt, bis diese quicklebendig auftaucht und im Spielrausch neugeboren untergeht.
Es hetzt der Russe gegen den Franzosen und beide gegen die Deutschen; es wird Vermögen ersehnt, weil das wichtigste Vermögen fehlt: wirklich zu leben. Nächstenliebe ist Nächstenhiebe, und die Verblendung treibt die Geblendeten in eine totale Heil- und Hilflosigkeit – in der sie quasi an den Lautsprechern der Verständigung drehen, bis sie im Dröhnen des eigenen Schreis zusammenbrechen. Die Drehbühne zeigt Salon, Hotelschlafzimmer, Kellerküche, Stuhlreihe vor einer großen Leinwand, Flittervorhang – alles aufdringlich billig, die Sperrholztüren knallen; wie hungrige Nagetiere huschen Gestalten durch die Kulissenspalten. Man verheddert sich in den Vorhängen, die man von Wänden reißt, es wird in ein Krokodil gekrochen oder sich in einer Schildkröte versteckt. Nach wenigen Minuten tritt die Übersicht des Ganzen an die Rampe und verabaschiedet sich kapitulierend; die Geschichte um Dostojewskis Spielsüchtige reißt fortan ihr Maul auf und spuckt Zusammenhänge aus – wie Kiesel, die nie wieder zu einem gut ausgelegten Weg zusammenfinden: Heiner Müller, Edgar Wallace, die Geschichte vom teufelaustreibenden Matthäus. Nichts passt, alles passt haargenau. Pamphlet statt Psychologie. Castorf inszeniert stets auch essayistisch; das rempelt, röhrt, rudert, radebrecht sich zur räudigen Messe des Bösen, das bedauernswert ist, und des Erbärmlichen, das ungeniert seine Mordlust gesteht.
Der Abend schraubt sich in Verstiegenheiten russischer Seelen, offenbart slawischen Nationalismus als verzweifelt-abstruse Reaktion auf europäische Verwertungskälte, er lässt Tschechows Ruf »Nach Moskau!« zu einem imperiallüsternen »Nach Asien!« werden. Er zitiert aus seinen »Dämonen« (dem ersten Volksbühnen-Dostojewski vor Jahren) jene Sätze, in denen der unbeschwert muskulöse Traum des Slawen von einer gelingenden Ankunft im Westen umgeschmolzen wird in die nüchterne Konsequenz, das Leben im tristen – sagen wir: Karlsruhe zu beenden. Karlsruhe wie Karlsgrab. Spiel mit Hitlergruß, Pistolenbauchschüssen, Kalauern (»je älter, desto jewski«), Sehnsuchtsrufen nach Brian Jones, dem im Swimming Pool ersoffenen Rolling Stone – Assoziation ist alles, die Summe dieses wirren Teilchenflugs wirft ein bitter hohnlachendes Licht auf eine Welt, in der Spiel nicht Freiheit, sondern ein von der Gesellschaft geforderter Übertritt in den Massen-Orden der Sinnsimulanten ist. Zugleich rumort in diesem brüllenden, aufgekratzten, zusammengenagelten, kulissenwackelnden, herumtobenden, ausdrucksüberdrehten Kindertheater des Unmaßes ein fast dämonisches Fühlen – und zwar mit dem unauflösbar Fremden, Unzeitgemäßen, Unkultivierbaren. In der Welt – und auf dem Theater. Wo Castorf immer wieder so etwas wie die Vermüllungswürdigkeit des Daseins behauptet: Seine Welten sind quirlige Endlagerstätten für schwach strahlende Seelensubstanzen und für Verbrennungsrückstände existenzieller Selbst- und Weltbehauptungsprozesse. Auf der Abfallseite des Lebens schillern die wahren Farben. Das Spiel als tödliche Droge, aber doch auch als schöne Leidenschaft – gegen die Selbsteinkrümmung durch Regel und Ordnung, in Welten, die sogar im Joghurt Kulturen züchten und in denen keiner mehr zu unterscheiden vermag zwischen dem Rauschen der Eingebung und dem einer Klimaanlage. In solcher Welt ist das Versoffene und Versiffte und Vergorene und Verantwortungslose ein Zeichen von Leben gegen feingerippte Lüge.
Großartige Schauspieler! Alexander Scheer mit dem Gundermann-Naturell als Alexei: Schnippgummi und großäugig Ausgezehrter im Süchte-Orkan. Dünnzitternde Beine bis unter die Haarwurzel. Slapsticker auf einem Kartoffelteppich. Am Ende hechelt er einen Monolog übers Spiel ins Publikum – da setzt sich einer, so schuldbewusst wie friedensflehend, unzählige Wortnadeln ins gierige Fleisch, das nicht aufhören kann, schwach zu werden. Sophie Rois ist die reiche Tante: von einer egoistischen Schärfe und einem überwältigend zynischen Witz. Wie sie selber zur Spielerin wird: Auf dem Roulette-Tisch windet sie sich wie ein Schiff, das sich todeslüstern in den Ozeansturm wirft; eine orgiastische Feier der Selbstauflösung. Kathrin Angerer als kokett leidende, raffiniert schwächelnde Polina, die sich mit Alexei ein ekstatisch demütigendes, ein bleiblutschwer trauriges, ein federleicht mit Verachtung spielendes Liebes- und Hassduell liefert. Mex Schlüpfer: starr wummernder Engländer. Georg Friedrich als Franzose wienerisch verschleimt. Margarita Breitkreiz, die kalkülheiße Generalsbraut: gespielinnengrazil. Frank Büttner als Krokodilsbesitzer brüllend, und Hendrik Arnst in Generalsuniform: urkomisch fettwanstbehende. Castorf wuchert, wummert, witzelt, aber im bestechend seelennahen Videofilm, der die Spieler hinter der Kulissenwand live erfasst, sind die Hornhäute auf den Herzen bis auf Nervenhauchesdünne blankpoliert. Da ist Hölderlin nah und also der sehr, sehr tiefe Ernst: »Immer spielt ihr und scherzt? ihr müßt! o Freunde! mir geht dies /In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.«
Nächste Vorstellung: 8.10.
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