• Kultur
  • Buchmesse Frankfurt am Main

Die einfachen Wahrheiten

KÄTHE REICHEL: Erzähltes aus der Kindheit

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie hat etwas, das ihr Spiel unverwechselbar macht: eine Naivität, die nicht aufhört, auf dem zu insistieren, das für sie jetzt gerade wichtig ist. Ihre Stimme scheint direkt aus der Kindheit zu kommen, wie sorgsam konserviert, weist sie all die schweren Erfahrungen, die sie auch machen musste, schon in der singenden Tonlage, in der sie spricht, zurück. Alles was Käthe sagt, klingt wie eine gerade hinzu erfundene Strophe eines Kinderliedes. Da ist jemand, der nicht aufhört sich darüber zu verwundern, dass die Welt glaubt, sie müsse so unvollkommen sein, wie sie ist.

Wie gegenwärtig Käthe Reichel die Kindheit geblieben ist, vor allem die Mutter, mit der sie bis zu ihrem Lebensende Dämmerstunden lang zusammensitzt und den immer gleichen Geschichten zuhört, erfährt, wer dieses Buch liest. Was ist Heimat, wenn nicht das? Ein Satz gleich auf den ersten Seiten: »Leben ist erzählen«. Und vor den Müttern kommen die Großmütter, auch sie sind Teil der großen Lebenserzählung. Die Mutter, die »Kleinmagd aus Dittersdorf«, die nach Berlin fährt, sich eine Stelle als Dienstmädchen zu suchen. Das Mädchen vom Lande wird dort als erstes bestohlen und besitzt nun nichts mehr. Sie geht zur Polizei – und wird dort vergewaltigt.

Das ist Berlin für sie: ein Ort, an dem ein Unheil auf das andere folgt. Sie bekommt tatsächlich eine Stelle als Dienstmädchen, aber ist schwanger geworden – und wird aus dem Haus gejagt. Die Heilsarmee fängt sie auf. Um in der Charité überhaupt entbunden zu werden, so ganz ohne Geld, muss sie zuvor dort arbeiten, als Bedienstete der Patienten erster Klasse. Das Kind, ein Junge, wird geboren – und kommt sofort ins Waisenhaus. Dort interessiert man sich für den Kindsvater und fordert von dem Vergewaltiger Unterhalt für das Kind. Für die eigentliche Tat war der inzwischen versetzte Polizist gar nicht belangt worden. Aber nun holt sich das Waisenhaus »fünfundvierzig Deutsche Reichsmark im Monat für dieses Polizistenkind«. Käthe Reichel notiert: »Über den Jungen im Waisenhaus hat sie nie mehr ein Wort verloren. Hat sie ihn manchmal besucht? Vielleicht ist er dort bald gestorben.«

So blicken wir in das proletarische Vorkriegsberlin. 1926 wird Käthe Reichel geboren, ihre Mutter ist das, was man fromm nennt. Nach der Heilsarmee kommen die Zeugen Jehovas, zu denen sie aber nie ganz gehört. Immer braucht die Mutter eine einfache Wahrheit, an der sie sich festhalten kann. Auch darin erkennt sich die Tochter. Wenn sie später bei Brecht oder Besson diese Dienstmädchengemüter spielt, weiß sie, was das ist: harter Alltag und bescheidene Wünsche ans Leben. So ist es vor allem ein Buch über die Mutter geworden, eine Liebeserklärung an das schlichte, aber ehrliche Leben. Auch das Mädchen Käthe muss mitverdienen, steht auf der Straße und verkauft vor Weihnachten Lametta. Als die Mutter stirbt, ist das ein Schock: »Und ich war von nun an allein auf der Welt.« Diese Kapitel sind die schönsten, weil lebensechtesten im Buch.

Doch Käthe Reichel ist es ebenso wichtig, das zu verbreiten, was sie in ihrem Leben als richtig erkannt hat. Der Freiheit im bürgerlichen Sinne misstraut sie. Ihr hat sie nur eine Kindheit in Armut gebracht. Über das »Raubtier« Faschismus, das 1945 am Boden lag, schreibt sie: »Um aufzustehen, braucht es jene Freiheit, die einzig die Demokratie gewährt.« Das klingt dann allerdings weniger nach Brecht als nach Dienstmädchenphilosophie.

Käthe Reichel: Dämmerstunde. Erzähltes aus der Kindheit. Neues Leben. 160 S., geb., 12,95 €

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.