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Held, der er nicht war
KOLJA MENSING auf der Suche nach dem Großvater
Im Mai 1945 rückt der Pole Józef Kozlik mit den britischen Truppen in den Nordwesten Deutschlands ein, wo er Marianne kennenlernt, die Tochter eines Tischlers. Beide glauben an die große Liebe, 1946 wird ihr Sohn geboren. Die Liebe zerbricht: Marianne wird als »Polenhure« beschimpft, Józef ist untreu und trinkt. Das Paar trennt sich. Marianne lässt nicht selten ihre Wut über die verlorene Liebe an ihrem Sohn aus. Mit Besenstiel und Feuerhaken, meist wegen Nichtigkeiten. Ihre Versuche, in den männerknappen Nachkriegsjahren einen neuen Mann zu finden, scheitern meist nach der ersten Begegnung. Es wird noch lange dauern, bis sie heiraten kann. Eine wohl eher freudlose Beziehung. Ihr Sohn wächst bei Verwandten auf, ist nur gelegentlicher Gast.
Józef ist im Winter 1949 nach Polen zurückgekehrt nach einem sehr wechselvollen Leben in Deutschland, mit Betrügereien und allen möglichen illegalen Geschäften. Für Marianne ist sein Name getilgt.
Für den Sohn bleibt er nicht existent. Als Halbwüchsiger versucht er dennoch, von zu Hause auszureißen, um den Vater zu finden. Im Atlas ist mit Bleistift der Weg eingezeichnet, der ihn zu ihm bringen sollte. Die Flucht misslingt, der Vater bleibt ein Phantom. Erst nach mehr als zwanzig Jahre beginnt Józef, seinem Sohn in Deutschland zu schreiben. Eine kurze persönliche Begegnung in Polen gibt es, sie bleibt aber ohne tiefere Folgen. Der Sohn, nun selbst Vater, erzählt seinem Kind über den polnischen Großvater und dessen Heldentaten. Die Verklärung des Großvaters bestimmt das Bild, das der Enkel mit sich tragen wird. Er sieht den Großvater in den entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkriegs, einen Gutmenschen.
Wieder viele Jahre später stößt Kolja Mensing, der Autor des Buches, Józefs Enkel, auf die Briefe an den Vater. Die Geschichten seines Großvaters, den er nie kennen gelernt hatte, machen ihn neugierig: Er erfährt von Józefs Kindheit in Oberschlesien, seiner Zeit als »Beutekamerad« in der Wehrmacht und als Soldat der polnischen Exilarmee bis hin zu seiner Rückkehr in das nun kommunistische Polen. Über das hinaus, was er dort liest und was er aus der Interpretation des Vaters weiß, verlangt es ihn nach Details. Er will einfach mehr in Erfahrung bringen. Die Frage nach dem Woher setzt bei Mensing jahrelange Recherchen in Gang. Dabei muss er feststellen, dass Józef die Briefe an seinen Sohn nutzte, um sich zu einem Helden zu machen, der er keineswegs war. Er folgt den Spuren eines Lebens, das in der Erinnerung zur Legende wurde. Weder die Berichte aus dem Krieg entsprechen den wirklichen Taten noch das, was der Großvater anschließend vorgibt, getan zu haben.
Auch nach der Rückkehr in seine Heimat kann Józef nicht Fuß fassen. Der kommunistische Staat verhält sich ihm gegenüber misstrauisch. Er muss alle möglichen Prüfungen über sich ergehen lassen, ohne am Ende dort angekommen zu sein, wo seine Reise begonnen hatte. Was nicht unbedingt an den neuen Verhältnissen lag, sondern vielmehr an seinem unsteten Leben und seinem Charakter. Frühzeitig entwurzelt, aber mit der Gabe, sich Rollen aus anderer Leben zu nehmen und diese als eigene auszugeben. Als Hero zu erscheinen, ohne jemals Held gewesen zu sein.
Ein Stoff, der sich vorzüglich für einen Roman eignet. In dem die persönliche Recherche des Autors in den Hintergrund tritt, weil es Mensing gelingt, neben gesellschaftlichen, politischen Ursachen eben vor allem charakterliche Eigenschaften für die Entwurzelung aufzuzeigen, die schließlich in ein verlorenes Leben münden. Dabei ist es völlig belanglos, dass Józef aus Polen stammt. Es hätte überall auf der Welt passieren können, dann allerdings ohne oberschlesische Geschichte und polnisches Kolorit.
Kolja Mensing: Die Legende der Väter. Eine Suche. Roman. Aufbau Verlag. 234 S., geb., 18.99 €
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