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Utopie

JOCHEN SCHIMMANG: »Neue Mitte«

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 3 Min.

Jochen Schimmang hat ein Faible für deutsche Hauptstädte. In seinem vorigen Buch »Das Beste, was wie je hatten« nahm er Bonn unter die Lupe. Im aktuellen Werk knöpft er sich Berlin vor. Lebt der gelungene Vorgänger von der genauen, fast wissenschaftlich-historischen Beobachtung und Analyse der Rheinprovinz, wird die Annäherung an Berlin im Gewand einer Zukunftsvision mit Politthriller-Elementen versucht – mit durchwachsenem Erfolg.

Man schreibt das Jahr 2029, als Protagonist Ulrich Anders die »Neue Mitte« Berlins betritt. Es ist dies das ausgebombte und verlassene Folter- und Verwaltungszentrum einer Militärregierung. Diese hat nach einem Putsch von Bundeswehrgenerälen Deutschland unterjocht – die konkrete Politik dieser Gruppe bleibt schemenhaft –, bis eine ebenfalls zu unscharf bleibende internationale »Befriedungstruppe« dem Spuk ein Ende machte. Das ist nun vier Jahre her, Berlin wird von einer »Internationalen Kommission« verwaltet. Ganz Berlin?

Nein. Eben jene Neue Mitte liegt noch immer brach, und bietet Schimmang die Bühne für einen utopischen Gesellschaftsentwurf. Der von äußeren Einflüssen und der umgebenden Großstadt merkwürdig

unberührte Mikrokosmos aus Intellektuellen, Computerfreaks und ehemaligen Widerstandskämpfern, die es sich in den Ruinen der Diktatur gemütlich machen, schlägt den provinziellen Erzähler Anders in seinen Bann. Gerufen hat ihn ein Jugendfreund, seine Aufgabe ist der Aufbau einer Bibliothek als Keimzelle einer neuen Zivilgesellschaft. Bücher

sind ein rares Gut. Herangeschafft werden sie von »den Anarchisten«, die Schimmang stets in dieser Allgemeinheit so bezeichnet, als sei es eine Charaktereigenschaft.

So weit, so vielversprechend. Allein – Schimmang vermag es nicht, aus diesen Versatzstücken einen plausiblen, mitreißenden Alltagsentwurf einer postdiktatorischen Gesellschaft zu zimmern. Vielmehr scheint es, als sei ihm das politische Drumherum lästiges Beiwerk, als komme es ihm allein auf die zwischenmenschlichen Mechanismen innerhalb jenes Trümmerdorfes an. Auf diesem Terrain ist Schimmang sehr gut, die Wechselwirkungen auf engstem Raum beschreibt er nachvollziehbar. Auch ist etwa Sander, der alte Jugendfreund, eine durchaus interessante Figur. Warum Schimmang dafür jedoch einen Wust aus Horrorvisionen mit zum Teil ärgerlichen Thriller-Elementen auftürmen muss, bleibt sein Geheimnis. Denn kaum verlässt er die private Ebene, um mit Rückblicken, Interviews oder eingeschobenen Dokumenten und Zeitungsartikeln seine Vision auszugestalten, wird es teilweise naiv, holzschnittartig.

Es formt sich nach der Lektüre ein widersprüchliches Bild des zukünftigen Deutschland, das hier einerseits düster und zerrissen erscheinen soll, andererseits aber scheinbar bestens organisiert ist.

Auch ist jene Ruinen-Gemeinschaft – bis zum unvermeidlichen Einzug der Touristen und Supermärkte – einfach eine Spur zu gut. Der Sprengkraft der allzu menschlichen Widrigkeiten wird zunächst wenig Raum eingeräumt – obwohl sie doch so einige Kommunen seit den 1960er Jahren zur Strecke gebracht haben.

Jochen Schimmang: Neue Mitte. Roman. Edition Nautilus. 256 S., geb., 19,90 €

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