• Kultur
  • Buchmesse Frankfurt am Main

Fertigsalat und Fertigleben

WILHELM GENAZINO erzählt gemein komisch vom Unglück des Bewusstseins

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Nicht die besinnungslose Natur im Menschen lässt ihn zur Gefahr für sich und andere werden. Nicht unser unkontrolliertes Triebwesen muss schrecken – es ist vielmehr das Bewusstsein, das uns zum fortwährenden Risikofall werden lässt. Goethe lässt seinen Mephisto sachkundig verachtend und höhnisch von der Vernunft reden, die der Mensch benutze, um »tierischer als jedes Tier zu sein«.

Die Eindämmung des Menschen durch den Menschen ist daher, nach der Erschaffung der Welt, der zweite, weit schwierigere und wohl nie abgeschlossene Schöpfungsakt. Unsere Fähigkeit zum Wünschen weitet uns, aber damit wächst auch Gier. Und: Währenddessen das Tier doch einzig im Absolutismus der Gegenwart lebt, sind wir beladen mit Lasten der Vergangenheit und mit jener einzigen Gewissheit einer unbekannten Zukunft; unser Existenzempfinden ist gebrochen durch das Bewusstsein von Zeit.

Deren Horizont ist eine ständige Drohkulisse, denn Zeit verwandelt sich andauernd in Frist und reißt uns aus der Geborgenheit im Hier und Jetzt, und nur weil es in unserem Denken diese künftige Bedrohung gibt (deren Abschluss der nicht hinnehmbare Tod ist), entsteht das Verlangen nach einer Macht, die Zeit und Raum und Zukunft zu beherrschen hofft. Hauptsächlich darum tobt unser Bewusstsein. Von Zeitlichkeit geschlagen, versuchen wir uns durch die Zeit zu retten. Das wäre anders, wenn wir Tiere wären.

Wilhelm Genazinos neuer Roman, der diesen Titel trägt, ist daher eine Gottesbeschwerde: Erweiterter Hirnraum ist Vorhölle, Absturzgebiet. Denken macht nur im mildesten Falle, wie George Steiner sagt: traurig. Vor allem macht es unglücklich. Furchtbar, wer seine ausweglose, unhaltbare Situation im All begreift. Und das All beginnt, wenn wir die Augen in den beliebigsten unserer Tage öffnen.

Beim Bewusstwerden – das nicht gleichzusetzen ist mit einem bewussten Werden – liegen eines Menschen Selbsterhaltungswille und der Wille zur Selbststeigerung in einem seltsam unerbittlichen Streit. Selbstwendung fällt zusammen mit Selbstvernichtung. Der Erzähler Genazino protokolliert den Erschöpfungszustand zwischen beiden Willensformen: Alles geht, weil es um nichts mehr geht; indem alles zu gehen scheint, ragt nichts unerträglicher ins Leben hinein als: das Nichts. Dieser bequeme Nihilismus der alltäglich abgeleisteten Ödnis schmerzt stärker als jene aggressive Verneinung, die verändernde Tat werden will. Das Leben erscheint in diesem Buch als träger Fluss – was in dem Moment zum Problem wird, da man die Sicherheit des Beobachters verliert und spürt, dass man mitschwimmt in dieser lauen Brühe, in diesem einzigen Fluss, der nicht ins Meer mündet, sondern wahrlich ein Ab-Fluss ins Grab ist. Das Grab heißt Arbeit, Alltag, Anständigkeit, Angetrautsein.

Hinter der nach wie vor heiteren, ironisch ausgebreiteten Detaillust am Einerlei im Vielerlei des Stadt- und Betriebsgetriebes zieht sich in Genazinos Werk mehr und mehr, zwar mählich, aber radikal unaufhaltsam, eine unsichtbare Kerkermauer hoch. Der in einigen seiner Romane so beherzt lebende und im Stillstand freudig vibrierende Spaziergänger, der Flaneur und sich wohlig distanziert Herumtreibende, jener geradezu souverän leisetreterische Ausbrecher aus dem Gewohnten – er ist hier Gefangener.

Jede Fußgängerzone, jede Büroetage, jede Wohnanlage, jedes Bett, in dem zwei liegen: bei Genazino ein Guantanamo für die Träume von wirklicher Freiheit und unverletzbarer Liebe. Die anscheinend herrlich freien Nebenwege in dieser Prosa gestehen inzwischen, dass auch sie zur Gattung der Sackgassen gehören. Was mit nahezu absurder Lebenstrotzigkeit perlt – im tiefen Grunde tropft es ölig und klebrig zwischen die Bekömmlichkeitsstränge unseres literarischen Aufnahmevermögens. Genazino ist somit ein meisterlich hintersinniger Vortäuscher. Er ist gemein. Ständig muss, wer in solchem Roman leben muss, seine Selbstgewissheit mühsam aus der Gesellschaft abschöpfen, und es kann nicht gelingen. Einmal ist von »allgemeiner Zerfetztheit« die Rede – eine arge Bestandsaufnahme vom Innen und vom Außen. Vom »Fertigsalat« darf quasi aufs Jüngste Gericht geschlossen werden, dessen Urteilsspruch täglich erneuert wird: »Jetzt trug ich mein Fertigschicksal in meine Fertigwohnung, wo ich einen Fertigabend vor dem Fernsehapparat verbringen würde.«

Des Autors »Abschaffel«-

Romantrilogie vor fast 35 Jahren begann mit dem Satz: »Weil seine Lage unabänderlich war, musste Abschaffel arbeiten.« Dieser erste Satz ist der jeweils letzte Befund aller Romane. Er gilt demnach auch für die Hauptgestalt des neuen Buches. Dieser 42-jährige freie Architekt für Erweiterungsbauten von Supermärkten nimmt eine Festanstellung an. Er muss arbeiten: daran, dass die Ehe nicht zerbricht; daran, dass die Freundin unentdeckt bleibt; daran, dass seine wachsende Ruhelosigkeit nicht zur fressenden Gefährdung wird. Das verfluchte Denken. Die verdammte Bewusstwerdung. Ein Vogel müsste man sein: hoch, und ab in die Wolken!

Wenn wir Tiere wären! Sie fallen als Assoziationsfiguren, wie kleine Trolle, wie Gespenster, in dieses Buch ein: Krähen und Wespen und Schwäne, sogar einem Rollmops wird melancholisch gehuldigt. Und der Ente. »Schlafend auf einem Bein in der Stadt herumstehen: dann fiele mir kein weiterer Wunsch mehr ein.«

Aus dem so befreienden – aber letztlich doch nur die Existenzbedrückung erhärtenden – Gedanken an Tiere erwächst dem Romanhelden Genazinos eine seltsam vertrackte Simplizität. Er ist ein verzweifelter Eulenspiegel der Langeweile. Er ist ein kläglicher Taugenichts der Regelbrüche. Er befreundet sich regelrecht mit den Zwielichtern des Tag-und-Nacht-Taktes an – Genazino lässt ihn zu einem Betrüger und Doppelgänger werden, er landet im Gefängnis. Freiheitsentzug ist nur Zellenwechsel? Wohl eher ein Beglücktsein auf Zeit, das aus der aufdringlichen Zeit reißt, jenem Mahlstrom aus Erlebniszwang, Reizbeschuss und grellbuntester Monotonie.

Das komische Spiel mit der Identität, die quasi aufreizend frohlockend vollzogene Aufgabe des bürgerlichen Umrisses hat so, vorm Staatsanwalt, seinen Höhepunkt. In einem Roman, der ohne große äußere Aufregung seine kleine Handlung ausbreitet – und zugleich fortwährend sein eigener Kommentar ist. Genazinos Unglücksmensch geht in sich, steht neben sich, liegt verzweifelt quer zum Modernitätsschnurren der Großstadt, wird doch wieder mitgerissen und dabei unablässig auf die Couch eigener psychiatrischer Einschätzungen geworfen.

Das Doppelwesen aus Erzählung und Reflexion, das zu erschaffen der Büchner-Preisträger so blendend beherrscht, gibt den Geschehnissen einen kühlen Untergrund und lässt uns Erkenntnisse – empfinden. Wieder betört und irritiert der gleichsam hochgetriebene Ton einer Sachlichkeit, die selbst alles, was unter Bettdecken geschieht, in technische Abfolgeprotokolle verwandelt. So entsteht Verfremdung, so zeigt sich, nackt wie nie, Entfremdung.

Friedrich Hebbel schrieb den Satz: »Die Kraft der Mücke liegt darin, dass sie keinen Namen hat.« Auch Genazinos Erzähler hat keinen Namen. Er ist die Mücke, die sich quasi selber piesackt, um den süßen Schmerz eines freilich illusorischen Abhandenkommens zu spüren. Aber das Bewusstsein, so schaut uns dieser Roman warnend an, lässt uns keine Ruhe. Das Leben des wachen Geistes ist ein Triumph über den Tod, und zugleich zeichnet es diesen erschütternd übermächtig und unabwaschbar an jene Wand, die wir nicht durchdringen können. Lebend wird dieser Tod von uns abgebüßt. Sein Name: Biografie.

Wilhelm Genazino schreibt mit seinen Romanen an einer Mentalitätsgeschichte des deutschen Volkes, einer Masse des seelisch implodierten Menschen, der nichts ändern kann, dem jedoch an hinterster Herzstelle eine Ahnung pocht, dass sich alles ändern – müsste. Und sich auch ändern könnte. Wenn wir Tiere wären. Wenn … Aber wir leben in der Evolution, nicht in der Revolution.

Wilhelm Genazino: Wenn wir Tiere wären. Roman. C. Hanser. 160 S., geb., 17,90 €

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -