Kunst der Selbstinszenierung

MEDIENgedanken: Banken-Proteste und Polit-Talkshows

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Keine Frage, die westliche Welt ist in Aufruhr. Der Ruf der Menschen nach demokratischer Selbstermächtigung wird lauter. In New York, Paris, London, Berlin, Frankfurt ? Und die Medien sind mittendrin. Vordergründig erleben wir eine Zeitenwende. Die Bilder zeigen Ähnliches, das wiederum zur Nachahmung in anderen Metropolen der westlichen Welt animiert. Ein mediales Perpetuum mobile, das sich seiner selbst ermächtigt hat und in einem immer schnelleren Takt die immergleichen Bilder, Meldungen, Meinungen, Protestparolen auswirft. Kaum haben die Ersten in New York ihre Zelte vor der Wall Street aufgeschlagen, finden sie in anderen kapitalistischen Metropolen westlicher Prägung ihre Nachahmer. So schnell die »Occupy«-Bewegung entstanden ist, so schnell kann sie wieder verschwinden - um wenig später in abgewandelter Form wieder aufzutauchen.

Statt demokratische Selbstermächtigung die brachiale Kunst der Selbstinszenierung als Massenspektaktel. Den Berliner Rapper Bushido erinnern die Banken-Proteste an eine »bescheuerte Facebook-Party«. Ganz unrecht hat er mit diesem Vergleich nicht. Würden Theodor W. Adorno und Max Horkheimer noch leben, sie hätten ihre helle Freude an diesen Protesten. Die Auffassung, dass »soziale Differenzierung und das Spezialistentum in kulturelles Chaos übergegangen sei, wird alltäglich Lügen gestraft. Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit«, schrieben die beiden Philosophen in der »Dialektik der Aufklärung«.

Das Hauptwerk der »Frankfurter Schule« wurde Mitte der 1940er Jahre geschrieben. Da gab es noch kein Internet, keine Online-Netzwerke, keine globalisierte Protestkultur. Und es gab vor allem noch keine Polit-Talks im Fernsehen, jener Radauröhre der von Adorno und Horkheimer sezierten Kulturindustrie. Genau genommen ahmt die »Occupy«-Bewegung nur nach, was ihnen die politische Unterhaltungsindustrie im Fernsehen vorgemacht hat. Richard David Precht, Philosoph wie Adorno und Horkheimer, aber auch Talkshow-Dauergast, beklagte sich kürzlich, man werfe ihm häufig Arroganz vor. Das sei jedoch »ein aus der Distanz geborenes Bild, vermittelt durch Talkshow-Auftritte«, rechtfertigte sich Precht in einem Interview mit dem »Kölner Stadt-Anzeiger«. In deutschen TV-Talkshows würden leider Politiker dominieren, nicht die Experten. Laut Precht liegt die Ursache dafür, dass immer dieselben Experten zu den Talkrunden eingeladen werden, darin, »dass die meisten sehr intelligenten Menschen nicht in der Lage sind, ihre Hauptthese in einer Minute griffig zu formulieren«.

Das ist das Dilemma: Wer Gehör finden will, muss sich laut in Szene setzen, die Rituale der Inszenierung beherrschen, sich jeden Gedanken verwehren, der nicht schnell aufgeht. Eine Debatte, wie sie 1965 im legendären Streitgespräche zwischen Adorno und dem konservativen Soziologen Arnold Gehlen zum Thema »Institution und Freiheit« im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geführt wurde, ist heute unvorstellbar. Ein Moderator, der sich im Hintergrund hält, zwei ältere, freundliche distinguierte Herren, die sich gegenseitig ausreden lassen, obwohl sie konträre Auffassungen vertreten, eine Studioeinrichtung, die nur aus drei Menschen auf drei Stühlen vor schwarzer Kulisse besteht - mit heutigen, an TV-Quoten orientierten Maßstäben gemessen waren das 30 Minuten gähnende Langeweile, ein Grund zum Abschalten, oder, um mit Richard David Precht zu sprechen: »So, wie das Talk-Format gestrickt ist, gibt es vielen keine Chance.«

Die Kunst des Arguments aber braucht ihre Entsprechung in der Kunst des Zuhörens. Vereinzelt blitzt diese Kunst auch heute noch in den Spartenbereichen des Massenbetriebs Fernsehen auf. Auf 3 sat etwa schafft Moderator Gert Scobel etwas, was selten geworden ist: Orientierung zu vermitteln. Ende September wiederholte der öffentlich-rechtliche Gemeinschaftssender von ARD, ZDF, dem österreichischen ORF sowie dem SRG (Schweiz) eine Sendung von Ende 2010. Gert Scobel diskutierte darin mit seinen Gästen über Jugendgewalt. Gesprächsgäste waren zwei Experten: Christiane Jesse, Leiterin einer Jugendhaftanstalt, und Joachim Kersten, Soziologe an der Polizeihochschule Münster. Übereinstimmend kritisierten beide die Skandalisierung der Jugendgewalt in der Öffentlichkeit. Für Auftritte bei Jauch, Will, Illner oder Plasberg sind diese Fachleute nicht geeignet. Scobel selbst schreibt in seiner Kolumne zur Sendung: »In der wissenschaftlichen Literatur (?) wird wiederholt auf die Rolle der Medien, aber auch der Politik und Polizei hingewiesen. In allen drei Bereichen gibt es eine Tendenz zu Skandalisierung und Moralpanik, was der Sache selbst wenig hilft.«

»Wir sind 99 Prozent« wird auf den Facebook-Protesten der westlichen Hemisphäre skandiert. Das ist wohlfeil und soll moralische Gewissheit suggerieren. Wer die Mehrheit stellt oder wer sie vertritt, ist im Recht. Selbstermächtigung - wenigstens solange das Fernsehen sendet. Der Ausweg, die Alternative? Es gibt sie nicht. Die demokratische Selbstermächtigung muss sich inszenieren, will sie wahrgenommen werden, will sie sich selbst überhaupt wahrnehmen.

Der Autor ist Medienredakteur dieser Zeitung.

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