Wie viele Wahrheiten gibt es?

Zunächst nur für eine geschlossene Gesellschaft: Ausstellung im Bundestag über die Integration der Vertriebenen

»Angekommen« lautet der Titel einer Ausstellung über die Integration der »Vertriebenen« in Deutschland, die am Dienstagnachmittag im Bundestag eröffnet wurde.

Wenn es stimmt, dass die Parteizugehörigkeit von Abgeordneten und deren Mitarbeitern an ihrem Out-fit zu erkennen ist, so waren zur Ausstellungseröffnung im Paul-Löbe-Haus nur Mitglieder der Unionsfraktion erschienen. Lediglich Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), sorgte für einen schwachen Farbtupfer im Unisono dunkler Anzüge und Kostüme. Es war ihre Show. Sie zog diese durch, ungeachtet der im Vorfeld von den Grünen geäußerten Kritik, mit der Ausstellung kapituliere die Bundesrepublik »vor der ganz eigenen Geschichtsdeutung eines aussterbenden Kreises weniger Gestriger« (Volker Beck). Wobei hier anzumerken ist, dass Politiker der Grünen auch schon vor »Ewiggestrigen« durch Anwesenheit bei deren martialischen Treffen kapituliert haben. Nun ja.

Ob der BdV selbst sich vom Verdacht revanchistischen Geistes befreien will oder eher mit ihm sich verbunden fühlende Kreise diesen aus der »Schmuddelecke« holen möchten - nicht zu übersehen sind Bemühungen um einen breiteren gesellschaftlichen Konsens. Norbert Lammert (CDU) berief sich bei der Eröffnung der nunmehr dritten Ausstellung der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« auf Günter Grass. In seiner Novelle »Krebsgang« beklage der Brandt-Freund, man hätte »das Leid der Vertriebenen, nur weil die eigene Schuld so übermächtig« ist, nicht den Rechtsradikalen überlassen sollen.

Sodann nannte der Bundestagspräsident die »Vertreibung« von Millionen Deutschen aus ihrer »angestammten Heimat« eine der großen Tragödien des 20. Jahrhunderts. Er vergaß zu erwähnen, dass zu den gemäß völkerrechtlichem Potsdamer Abkommen »Vertriebenen« Hunderttausende gehörten, die erst nach 1939 - mit der »Germanisierung« des eroberten, von Juden und Slawen blutig »bereinigten« Ostens - eine »Scholle« erhalten hatten. Eigentum aus räuberischem Akt. Und was wollte Lammert mit Picassos »nachdenklichem Satz« sagen: »Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über das selbe Thema malen.« Gewiss gibt es viele subjektive »Wahrheiten« (besser: Wahrnehmungen), aber nur eine historische Wahrheit.

Steinbach (CDU) bezeichnete die »Vertreibungen« nach 1945 als die größte demografische Umwälzung seit dem Dreißigjährigen Krieg. Sie monierte, dass »einzig der geografische Ort, nicht Schuld, zur Vertreibung führte. Münchner, Hamburger, Leipziger oder Berliner wurden nicht vertrieben, selbst wenn sie fanatische Nationalsozialisten waren.« Auch Steinbach suchte Legitimationsschutz im sozialdemokratischen Lager. Paul Löbe, ehemaliger Reichstagspräsident und SPD-Bundestagsabgeordneter, stamme aus Schlesien. »Und auch Wolfgang Thierse ist ein Vertriebener.«

Verstehen und Mitgefühl soll laut Steinbach die Ausstellung befördern, die zusammen mit den zwei vorangegangenen Expositionen (»Erzwungene Wege - Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts« und »Die Gerufenen - Deutsches Leben in Mittel- und Osteuropa«) ab März 2012 im Berliner Kronprinzenpalais der breiten Öffentlichkeit zugänglich sein soll. Verstehen und Mitgefühl halten sich indes in Grenzen hinsichtlich jener Menschen, die sich in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR um die Integration der Umsiedler bemühten; nur zwei der über 30 Ausstellungstafeln sind (mit den gängigen Klischees) den vier Millionen Deutschen gewidmet, die hier eine neue Heimat fanden. Immerhin wird erwähnt, dass diese wesentlich früher materielle und finanzielle Hilfe erhielten als ihre Leidensgefährten in den Westzonen/BRD. Ein Halbsatz - »nach der raschen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR...« - lässt hingegen wieder zweifeln an der Lauterkeit der Bundes und der Stiftung der »Vertriebenen«.

Die SBZ/DDR trug prozentual die größere Last. In der Ausstellung hätte außer Heiner Müllers (zunächst verbotenem) Stück »Die Umsiedlerin« auch der Film »Wege übers Land« von Helmut Sakowski erwähnt werden können. Unkenntnis speist sich aus Ignoranz und Arroganz. Und aus festgezurrten Vorurteilen und Verdikten.

Auf diese trifft die Besucherin des Bundestages nach der Steinbach-Show auch bei der parlamentarischen Dauerausstellung im Durchgangstunnel vom Paul-Löbe- zum Jakob-Kaiser-Haus. Der DDR sind nur zwei von über 20 Tafeln der Einigkeit und Recht und Freiheit ab 1848/49 preisenden Dokumentation gewidmet, die zudem schwarz getitelt sind wie die Tafeln über die NS-Zeit; auf allen anderen Tafeln prangen rote Lettern. Das ist Totalitarismus-Doktrin farbig umgesetzt. Während die Flaneurin darüber sowie über deutsche Verfassungsherrlichkeit und Verfassungswirklichkeit heute sinniert, eilt Thierse vorbei, finsterer Miene. Er erscheint eher als Getriebener denn Vertriebener.

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