Als sich der Rhein blutrot färbte
Vor 25 Jahren machte eine Giftwelle aus dem Schweizer Sandoz-Werk den größten deutschen Fluss zur Kloake. Die Katastrophe hat viel verändert
Basel/Mainz. Vor einem Vierteljahrhundert war der Rhein plötzlich blutrot. Es war der 1. November 1986, als in einer Lagerhalle des Schweizer Chemieunternehmens Sandoz in Basel ein Großfeuer ausbrach. Massenweise hochgiftiges, rot gefärbtes Löschwasser floss ungehindert in den Rhein. Es löste ein bis dahin nicht gekanntes Fischsterben aus. 25 Jahre danach sind die Spuren beseitigt.
Die Folgen des Unglücks prägen den Fluss und seine Anwohner aber noch immer. Am kommenden Montag will die rheinland-pfälzische Umweltministerin Ulrike Höfken (Grüne) den neuen Gewässerzustandsbericht vorlegen - und sagen, wie es 25 Jahre nach der Sandoz-Katastrophe um die Wasserqualität im Rhein bestellt ist.
Verseucht bis zur Mündung
Der Chemiker Dieter Kaltenmeier kann sich noch genau an das Unglück erinnern. 1986, im Jahr der Katastrophe, hat er als damals 29-Jähriger seinen Job im Regierungspräsidium Freiburg begonnen. Zuständig ist er seither für das Abwasser der chemische Großindustrie am Hochrhein. Sandoz gehört in sein Zuständigkeitsgebiet. Viel tun konnte der deutsche Beamte damals nicht, obwohl sich das Unglück direkt an der deutsch-schweizerischen Grenze ereignete. »Wir waren von allen wesentlichen Informationen abgeschnitten«, sagt er. »Die Wahrheit kam nur scheibchenweise ans Licht.« Einen direkten grenzüberschreitenden Informationsaustausch zwischen Deutschland und dem Nachbarland Schweiz gab es nicht, auch keine Kooperation bei derartigen Unglücken. »Wir waren in der Rolle des Zuschauers.«
Ort des Unglücks war, bei Flusskilometer 169, das direkt am Rhein bei Basel gelegene Indus-triegebiet »Schweizerhalle«. Eine Lagerhalle, in der sich 1350 Tonnen hochgefährlicher und giftiger Chemikalien befanden, ging in Flammen auf. Mehr als 20 Tonnen Gift flossen mit dem Löschwasser ungehindert in den Rhein. Und damit in den Fluss, der rund 20 Millionen Menschen in Deutschland mit Trinkwasser versorgt.
Die Giftwelle schob sich rheinabwärts, löschte den gesamten Aalbestand auf einer Strecke von mehr als 400 Kilometern aus, zerstörte zahlreiche andere Fische und Lebewesen. Bilder von Tausenden von toten Aalen, die aus dem Rhein geborgen wurden, gingen um die Welt. Die Trinkwasserentnahme aus dem Fluss wurde bis in die Niederlande für fast drei Wochen eingestellt. Es war eine der größten Umwelthavarien und löste damals, im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, viele Ängste aus. Gleichzeitig beförderte die Katastrophe die Umweltschutzbewegung. »So dramatisch die Ereignisse damals waren, so positiv sind die langfristigen Folgen«, sagt Kaltenmeier. Das Unglück wirke bis heute nach - im positiven Sinne. Es habe das Bewusstsein verändert. »Der notwendige Schutz des Rheins und die Verantwortung der Industrie wurden zu einem Thema.« Das Sandoz-Gift brachte einen umfassenden Umwelt- und Gewässerschutz entlang des Rheins in Gang.
So wurde erreicht, dass die gefährlichen Dauereinleitungen von Chemikalien in den Rhein in den vergangenen 20 Jahren auf ein Zehntel reduziert wurden. Es wurden Anlagen zum Gewässerschutz errichtet, Messsysteme gebaut und Alarmpläne geschaffen. Millionen Euro und Schweizer Franken wurden in den Gewässerschutz investiert. Heute ist der Rhein sauberer als vor 100 Jahren, sagen die Experten.
Es wird wieder gebadet
»Das Unglück hat viel bewegt«, sagt Jürg Hofer, der heute das Umweltamt in Basel leitet. Die Schweiz bekam eine Störfallverordnung, und die Unternehmen bauten Löschwasser-Rückhaltebecken und dezentralisierte Chemikalienlager. »Die ganze Branche hat gelernt«, sagt Hofer. Zudem wurde viel investiert, um den Rhein wieder lebendiger zu machen. Dieser erholte sich schneller als gedacht von dem Unglück. Viele Fische und andere Lebenswesen sind im Rhein wieder heimisch geworden. Sogar Lachse, die es zuletzt 1950 im Rhein gab, tummeln sich wieder in dem Fluss.
Auch Menschen wagen sich wieder hinein. Schlagzeilen machte der damalige deutsche Umweltminister Klaus Töpfer (CDU), als er im Mai 1988 öffentlichkeitswirksam im Rhein schwamm. Heute sind Schwimmer im Rhein keine Seltenheit mehr. Angst vor Gift müssen sie nicht haben, sagt ein Sprecher der baden-württembergischen Wasserschutzpolizei. Lebensgefahr bestehe aber wegen der nicht einschätzbaren Strömungen.
Nachspiel
Die Sandoz-Chemiekatastrophe vom 1. November 1986 hatte ausgerechnet für die Helfer ein juristisches Nachspiel. Zwei Feuerwehrleute, die Löschwasser in den Rhein geleitet hatten, wurden nach dem Unglück zu Geldstrafen verurteilt. Der Firmenleitung war durch die Gerichte keine Verantwortung nachzuweisen. Der Chemiekonzern leistete Schadenersatzzahlungen in der Schweiz, in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden von insgesamt 42 Millionen Franken. Das sind umgerechnet rund 35 Millionen Euro. Den Schaden des Unglücks bezifferte der Konzern auf 141 Millionen Franken (115 Millionen Euro). 1987 stiftete er zehn Millionen Franken (rund acht Millionen Euro) für einen Rheinfonds, der Forschungsprojekte über das Ökosystem des Rheins finanzierte. Dauerhaft verletzt wurde bei der Katastrophe niemand, sagen die Behörden. Der Brandort im Industriegebiet »Schweizerhalle« wird heute nicht mehr genutzt.
(dpa/nd)
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