Die Kinderseele jauchzt
»Mikropolis« von Christian Jost an der Komischen Oper Berlin
Schön, nicht wahr, wenn es im herrschenden Kulturschlamassel noch Opern-uraufführungen gibt? Noch schöner sind sie für Kinder gemacht. Die Komische Oper ist vorbildlich, sie scheut weder Kosten noch Risiko, sie vergibt Aufträge. Christian Jost hat mit seiner abenteuerlichen Insektenoper »Mikropolis« nun schon den zweiten Auftrag erfüllt.
Jost beherrscht alle Sorten Klischees: übermäßige Akkorde wie deren unvermeidliche Auflösung, Geigenglissandi à la Verdi, 4/4-Lostreter des Schlagzeugs, Blues᠆charaktere, cremigsahnige Musi-cal- und Operettentonfälle. Aus denen drechselt er, die Genres mit Strickleitern flott überbrückend, etwas zusammen, das unbedingt ankommen muss. Der Flickenteppich ist geschickt ausgelegt. Die Musikdramaturgie stimmt. Keine Figur zu viel. Diverse Elemente der Wiedererkennung. Witzchen aus der Nische. Dosierte Wiederholungen. Extrempunkte. Einsprengsel von Magie in Musik wie Bühne. Perfekt. - Was stört die Not des Einzelnen, dem das Ohr dauernd wehe tut beim Hören? Der Zuschnitt auf den Theaterkunden regiert das Bühnentreiben. Die Bedürfnisse, sie sind eben so.
Die Augen indes verprellt die Oper nicht. In »Mikropolis« prangt die Bühne vor Bewegt- und Buntheit. Die Kinderseele, unverdorben, jauchzt, gewahrt sie zittrige, huschende, fliegende Insekten in Menschengestalt. Die Herzen beben, wenn es Krieg gibt zwischen ihnen, zwischen vertraut und fremd, und sei es aus dümmstem Anlass. Nicht zu reden über die Freude, reichen zu guter Letzt Käfer, Tausend- füßler und Konsorten auf blühender Wiese einander die Hand.
Von der Figuren- und Farbenpracht lebt diese Neckerei von Oper. Regisseurin Nadja Loschky und Bühnen- und Kostümbildnerin Esther Bialas gelingt ein Theater des Zaubers, des Flirrens und Fliegens. Die Kostüme der Mikrotiere sind aufs Betörendste genäht. Imposanter Einfall: Jede Rolle hat ihr Double. Das füllt nicht nur die Bühne zusätzlich, sondern erweitert die Charakterisierung, affiziert Tänze, Lieder (Eintagsfliegen-Blues), Arien, Chöre.
Die Kreuzspinne agiert vierarmig (ungemein agil: Annelie Sophie Müller). Schlackernd mit den Knien in der Hocke, giftet sie vereint mit Ameise Annabelle (Anastasia Melnik) in Akt II jene Insektenfront an, welche die zugewanderte Grille aus niederen Motiven auszuschalten trachtet, indem sie sie in den Laub-sauger wirft. Die Arien, Duette, Ensembles sind mehr Selbstzweck, Hör- und Schau- stücke, Ersatz. Denn es gibt keinen wirklichen Konflikt. Schleierhaft bleibt, warum die Grille, die dicke Gesine vom Lande - der Sturm führte sie in die Fremde der Mikropolis -, wirklich stört und warum die Männer sie weg haben wollen. So ein schönes pralles Insektenkind, das so traurig singt, will man doch nicht weghaben. Das versteht kein Kind.
Spannend: Mit einem wüsten Tornado hebt das Geschehen an. Da donnert und kracht es. Rauch, Spiegelreflexe (Licht: Franck Evin). Die steilen Holzverschläge drohen zu zerspringen. Ruhe kehrt ein. Insektenwesen kriechen hervor. Bewohner, sich rekelnd unterhalb der Häuser- und Turmkulisse zwischen fortgeworfenen Büchsen und Nahrungsresten. In Akt II siedet es. Hochfliegendes Parlieren und Singen. Wundersam eckige, kubistische Lichteffekte. Gerechtigkeit soll walten. In der Musik rumort es. Dies Rumoren ist das Beste, was sie hat. Arien fangen plötzlich an zu funkeln.
Gesine (Erika Roos), die Dicke von der Wiese, deren Düften sie nachtrauert, wird natürlich gerettet. Der Laubsauger kippt, das Glühwürmchen (Anna Borchers) singt sich die Seele aus. Voran Spinne und Ameise nebst ihren Schatten, letztendlich alle Insekten sorgen dafür, dass Gesine und ihre Wiesenpracht die Bühne erhellen. Der chinesischstämmige Käfer Kurt (Peter Renz), der konstant herausstellt, ein deutscher Käfer zu sein, opfert sich sogar und geht freiwillig in die Fänge der stechgrünen Gottesanbeterin (Caren van Oijen), die - wie Tiere eben sind - die Grille verspeisen will. Überschüttung des Ensembles mit Beifall.
Nächste Vorstellung: 14.11.
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