Die dringenden Dinge
Vom Festival des Arabischen Films in Berlin
Sie haben uns zu sehr unterdrückt. Das ist vorbei. Wir haben keine Angst mehr!«, schreit auf der Straße ein Mann - im tunesischen Dokumentarfilm »No more Fear«, 2011, Regie: Mourad Ben Cheikh). Diese Erkenntnis, keine Angst mehr zu haben, nicht mehr stumm und vergrämt zu dulden und sich nicht mehr verschämt vor jeder Repression wegducken zu müssen - es ist quasi auch das politisches Fazit des Programms des Arabischen Filmfestivals.
Wer mehr erhofft hatte, Ausblicke auf die kommende politische Entwicklung etwa oder auch die ästhetische Entwicklung arabischen Filmschaffens selbst, wurde mit diesen Fragen wieder nach Hause geschickt. Zu unübersichtlich, zu wenig prognostizierbar erscheint die Situation. Interviewpartner in dem Schlüsselwerk »No More Fear« beklagen, dass aus dem revolutionären Aufbruch jetzt ein unübersichtliches Sammelsurium politischer Parteien erwachsen sei. Dies sei normal, meint jemand anderes, und spekuliert, dass nur die Parteien überleben, die es wert sind. Welche das betrifft, wird die Zukunft zeigen.
Die Frage, die aus westlicher Perspektive die vorherrschende ist: Wie stark sind islamistische Strömungen?, blieb in den Filmen seltsam ausgespart. Das mag an divergierenden Wahrnehmungslogiken liegen. Bei westlichen Beobachtern hatte Edward Said, der Vater der Postkolonialismus-Studien, schließlich schon in den 70er Jahren den »Orientalismus« ausgemacht, also eine Fokussierung auf den Islam als ein Vehikel der Rückständigkeit, das Frauen in Schleier, Mädchen in arrangierte Heiraten und Männer in die vormodernen Abhängigkeiten des Patronatssystems zwinge. Belege für diese Abhängigkeiten finden sich zwar zuhauf. Aber die arabische Welt ist nicht monolithisch und erst recht nicht homogen islamisch, wie allein die Existenz von Millionen Christen, Hunderttausenden Juden und einigen nicht-arabischen Sprachgruppen wie Kurden, Berber und Nubier belegt. Der stereotype Dreiklang Araber-Muslim-Rückständigkeit bildet dennoch weiterhin den Grundbeat der Wahrnehmung vom Okzident aus.
Dass die Filmemacher, die bei diesem Festival vertreten waren und meist zu einer jungen, aufstrebenden Generation gehören, diesen Blick nicht haben - und ihn bislang auch nicht in einem Anpassungsprozess an europäische Filmförderkriterien entwickelten - ist positiv zu bewerten. Die aktuellsten Filme - am brandaktuellsten sind hier die Kurzfilme - schöpfen aus unmittelbaren Erlebnissen. Sherif El Bendarys etwa zeigt in »Curfew« das Umherirren von Opa und Enkel anlässlich nächtlicher Ausgangssperren. Heba Amin kontrastiert in »Voices From The Revolution« (beide Ägypten 2011) die während der staatlich verordneten Internetsperre über den Kurzmitteilungsdienst Twitter versandten Parolen und Botschaften mit düsteren Bauruinen in Kairo. Langfilme, deren Drehzeit meist vor dem Ausbruch der Revolten begann, zeichnen sich oft durch allegorische Düsterkeit (etwa »Rodage«, Syrien 2010) und eine Übersetzung von Erstarrung und Ausweglosigkeit in Krankheitssymptome (»Fix Me«, Palästina 2009) aus. Andere benennen schon direkt die Einschränkungen (»Forbidden«, Ägypten 2011).
Dass in den meisten dieser aktuellen Filme der Islamismus keine Rolle spielt, mag aber auch daran liegen, dass sich die überwiegend jungen Filmemacher sich in großstädtischen, an westlicher Popkultur orientierten Milieus aufhalten und ihnen die islamische Bewegung als Antwort auf die Probleme möglicherweise unzureichend erscheint. Eine Beobachtung der tunesische Bloggerin Sarah Ben Hamidi über »ein Land mit einer Zweiklassengesellschaft« scheint auch treffend über Tunesien hinaus. Sie stellte - in einem Wahlblog bei Arte - fest, dass es eine Klasse gebe, die sich »grundlegenden Fragen« widme, und eine andere, die sich »dringenden Problemen« zuwende. »Es ist gespalten in eine Ober- und eine Unterschicht. Die Oberschicht spricht von einer neuen Verfassung, die Unterschicht von einem neuen (echten) Dach. Die Oberschicht will eine Gewähr für ihre individuellen Freiheiten, die Unterschicht eine Gewähr für das Überleben ihrer Kinder. Für die einen geht es um Grundlegendes, für die anderen um dringende Probleme.«
Erst wenn sich diejenigen, denen die grundlegenden Dinge wichtig sind, sich (wieder) auch mit dringenden Problemen beschäftigen, dürften außenstehende Beobachter Genaueres und Präziseres über die Motivation und den Lebensalltag der Menschen erfahren, die islamische Strömungen zu politischen Mandaten verhelfen. Ausblicke in diese Zonen geringeren Komforts gab bereits Imam Kamels Recherche »Nomad's Home« (Ägypten/D/Kuwait/VAE 2010).
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