Das schwere Erbe des »Cavaliere«

Silvio Berlusconi hinterlässt ein zerrüttetes Italien

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 6 Min.
Der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi ist am späten Samstagabend zurückgetreten - und hinterlässt ein Land am Abgrund.

Der Film »Der Kaiman« von Nanni Moretti, der 2006 beim Filmfestival in Cannes vorgestellt wurde, endet mit einem beängstigenden Bild: Silvio Berlusconi (denn der »Kaiman« ist niemand anderes als er) verlässt die politische Bühne - und hinter ihm steht ein Land in Flammen. Heute brennt Italien glücklicherweise nur symbolisch, aber Berlusconi hinterlässt tatsächlich ein Land am Abgrund, ein Land ohne internationale Glaubwürdigkeit, mit einer enormen Arbeitslosigkeit, ohne stabile Sozialstrukturen, ohne eine funktionierende Wirtschaft, in dem die organisierte Kriminalität fast ungestört agieren kann, ein Land, das bei jedem Herbstregen überschwemmt wird, in dem die Kunst- und Kulturschätze zerfallen, in dem alle moralischen und ethischen Grundsätze zur Disposition stehen - ein Land ohne Zukunft.

Das Land vor dem Kommunismus retten

Als der Mailänder Unternehmer 1994 antrat, um »Italien vor den Kommunisten zu retten«, war er zumindest für die Wirtschafts- und Mafiaexperten kein unbeschriebenes Blatt. Nur allzu bekannt waren seine dubiosen Geldquellen, seine unlautere Verquickung mit wichtigen Teilen der Politik, seine halb- und illegalen Geschäfte. In der Öffentlichkeit allerdings präsentierte er sich als Strahlemann, als eine Person, die ihr Wirtschaftsimperium allein und aus dem Nichts aufgebaut hatte.

Mit einer ausgefeilten Werbekampagne und mit Hilfe seines Medienkonzerns versprach er den Menschen alles, was sie hören wollten: Wohlstand, Freiheit, Glück und sogar ein längeres Leben. Er ließ sie an seinem Luxusleben teilhaben und zeigte sich gleichzeitig volksverbunden, stets für einen Scherz zu haben und überall gern gesehen. Schluss mit den langweiligen Politikern, die immer nur von Opfern und Lasten reden: Jetzt kommt Silvio Berlusconi, der den Italienern zeigt, was wirklich in ihnen steckt!

In den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden sich Psychologen und Soziologen wahrscheinlich weiter mit dem »Phänomen Berlusconi« auseinandersetzen und vor allem der Frage nachgehen, wieso ein großer Teil der Italiener - und dabei ist es unerheblich, ob es nun 50 Prozent oder weniger waren - diesem Mann Glauben schenkte, in ihm die Lösung für alle Probleme sah, und das auch, nachdem seine ersten Versprechungen (eine Million neue Arbeitsplätze, höhere Renten, weniger Steuern) wie Schnee in der Sonne dahin geschmolzen waren. Aber vor allem wird man sich damit beschäftigen müssen, wie sehr der »Cavaliere« (eine Auszeichnung, die ihm 1977 vom damaligen Staatspräsidenten Giovanni Leone verliehen worden war) Italien verändert hat und wie lange er noch nachwirkt.

Denn mit dem politischen Ende Silvio Berlusconis ist der »Berlusconismus« noch lange nicht vorbei. Er hat nicht nur in der Politik und in der Wirtschaft Wurzeln geschlagen, sondern auch in der breiten Kultur und im Volksempfinden. Ein Beispiel ist die Steuerhinterziehung. 2004 erklärte Berlusconi während der damaligen Wahlkampagne, er fühle sich moralisch autorisiert, Steuern zu hinterziehen, wenn diese zu hoch sind. Für viele Italiener waren diese Worte Balsam auf ihr schlechtes Gewissen: Endlich hatten sie für ihr Fehlverhalten eine gültige Entschuldigung gefunden. Nicht sie handeln falsch (und machen sich sogar strafbar) - nein, es ist der Staat, der sie praktisch dazu zwingt. Sie sind moralisch im Recht und brauchen sich nicht schämen; sie müssen nur schlau genug sein, sich nicht erwischen zu lassen. Und auch dafür war Berlusconi ja ein hervorragendes Vorbild.

Ein ganz wichtiger Leitsatz des »Berlusconismus« lautet also folgerichtig: Immer die persönlichen Interessen vor die der Allgemeinheit stellen. Der Ministerpräsident hat den Italienern auf höchster Ebene viele Jahre lang vorgemacht, was darunter zu verstehen ist: Er hat sich - mit Hilfe seiner Gefolgsleute und Lakaien - Gesetze auf den Leib geschneidert, wobei es vollkommen egal war, ob dadurch viele andere Menschen Nachteile erfuhren: die eigenen Vorteile (mal wirtschaftlicher und mal juristischer Art) standen immer im Vordergrund.

Für den »Berlusconismus« ist »Kultur« eine lästige Bürde. Wichtig sind die Unterhaltung, das Entertainment, der Spaßgehalt. Ein Weltkultur-Erbe wie Pompeji kann ruhig zerfallen; Theater kann man in den Ruin treiben; Literatur ist vor allem langweilig und wird nur daran gemessen, ob sie den Herrschenden dient: »Das italienische Fernsehpublikum ist wie ein zwölfjähriges Kind und muss auch auf diesem Niveau bedient werden«, erklärte einst der Medienmogul Silvio Berlusconi.

Praktisch die gesamte Fernsehlandschaft in Italien hat sich dieses Motto zueigen gemacht und der Erfolg von Sendungen geht heute mit der Anzahl der Schimpfworte einher, die in die Kamera geschrien werden oder mit den Zentimetern weiblicher nackter Haut, die man in jedem Kontext - und sei es der Wetterbericht - zur Schau stellt. Die wenigen guten und intelligenten Programme, die es gibt, fristen auf allen Kanälen ein Nischendasein. Warum sollte sich also der Einzelne mit Kultur »belasten«?

Das katholische Macho-Klischee

Die Frauenfeindlichkeit ist ein weiteres Standbein des »Berlusconismus«. Aber, so würden die Anhänger dieser populistischen »Philosophie« wahrscheinlich reagieren: Berlusconi ist doch kein Feind der Frauen. Im Gegenteil, er liebt sie! Tatsächlich hat der Ministerpräsident jahrelang (und je älter er wurde, umso mehr) das katholische Macho-Klischee bedient, das die Frauen in Heilige und Huren teilt. Heilige - das sind die Mütter und die Ehefrauen. Potenzielle Huren sind vor allem die jungen, hübschen Frauen. Und wenn sie schlau und geschäftstüchtig sind, dann können sie so auch zu Geld kommen oder Karriere machen. Mädchen wie die junge Maghrebinerin Ruby, aber auch Ministerinnen in Berlusconis Kabinett sind der lebende Beweis dafür. Frauen sind Besitztümer: »Ich habe Dir Deine Frau gegeben«, flüsterte Berlusconi vor zwei Jahren auf einer Pressekonferenz Nicolas Sarkozy zu und spielte dabei auf die Tatsache an, dass Carla Bruni Sarkozy aus Italien stammt. Dreckige Witze, in deren Mittelpunkt Frauen stehen - und das können auch reale Personen wie Angela Merkel oder die Vorsitzende der Demokratischen Partei Rosy Bindi sein -, gehören zum normalen Repertoire des ach so potenten Ministerpräsidenten.

Ein Teil der italienischen Männer - vor allem der älteren - braucht so auch kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen und kann sich mit realen oder erfundenen Sexaffären rühmen oder auf die »emanzipierten Frauenzimmer« schimpfen. Frauen, aber auch Homosexuelle und »Farbige«: im »Berlusconismus« sind sie letztlich minderwertig, und ernst nehmen braucht man sie auch nicht. Die vielen Witze, die man über sie reißen kann, sind der Ausdruck einer tiefen Menschenverachtung. Wie man auch immer zur »politischen Korrektheit« stehen mag: Im »Berlusconismus« findet sie garantiert nicht statt.

Der Schein ist wichtiger als das Sein

Und dann der Schein, der wichtiger ist als das Sein. Da werden Hautlappen geliftet und Haare verpflanzt, um »schöner« oder auch jünger, attraktiver und potenter zu erscheinen, als man tatsächlich ist. Und um andere für seine eigenen Zwecke zu gebrauchen und zu missbrauchen, werden Versprechungen gemacht, von denen man von vorn herein weiß, dass man sie nicht halten kann. Wichtig ist der Augenblick - nach mir die Sintflut

Die Sintflut ist im Fall von Silvio Berlusconi ein hoch verschuldetes Land, das große Schwierigkeiten haben wird, die nationale Anstrengung zu meistern, die jetzt notwendig ist, um die Krise zu überwinden. Aber sie ist auch ein Volk, das sich selbst nicht mehr mag, das keine gemeinsamen Werte und kein Vertrauen in sich hat. Erst wenn der »Berlusconismus« in den Grundfesten erschüttert wird, wenn es wieder ein Wir-Gefühl gibt, wenn Solidarität wieder in den Wortschatz der Italiener aufgenommen wird, ist eine Wiedergeburt, eine Renaissance Italiens möglich.

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