»... ist der bessere Mensch«?
Kleist-Jahr: Martin Walser und noch einmal Thomas Brasch – Tugend und Not des Charakters
Kürzlich hielt Martin Walser eine Rede in Harvard, USA, eine Rede über die Gabe von Menschen, sich unter allen Umständen gerechtfertigt zu fühlen. Er selber, so Walser, sei dazu nie fähig gewesen. Wie es aber geschieht, dass einer sich kräftig gerechtfertigt fühlt, das freilich weiß der Schriftsteller, der Vorgang ist in einer Tagebuchnotiz beschrieben. Walser bezeichnet darin jene Empfindlichkeit, mit der jede Ungerechtigkeit entschieden abgelehnt wird, als links. »Da er Menschen beobachtete, die auf Ungerechtigkeit nicht so reagierten wie er, musste er einsehen, dass er besser war als andere. Das führte dazu, dass er erkannte: der Linke ist der bessere Mensch.«
So wird man stabil gegen die Welt und trägt einen moralischen Stabilitätsfaktor in sich - der schafft das besagte Gefühl von absolutem Gerechtfertigtsein. Walser beneidet das ehrlich, nennt's aber auch lähmend und sagt ein Beispiel: »Lebenslänglich SPD, das stell ich mir vor wie eine Allwetterkleidung fürs Bewusstsein.« Wer die SPD nicht mag, nickt jetzt freudig, und je heftiger sich jemand in solcher Abneigung gerechtfertigt fühlt, desto weniger wird ihm vielleicht bewusst, dass selbstverständlich auch seine eigene Partei gemeint ist.
Wer sich, trotz aller Realitätsangriffe, dauerhaft unangreifbar fühlt, wer solche unbeugsame Kraft fürs richtige Leben hat, der rettet sogar Menschen aus der Vergangenheit herüber, um so die Reihen der Gerechtfertigten zu stärken. Man nennt solcherart Gerettete dann »unser«.
Kleist zum Beispiel. Als Adolf Dresen zu DDR-Zeiten am Deutschen Theater Berlin »Prinz von Homburg« inszenierte, sah die Kritik »die Gefahr des Abends: eine Distanz zwischen diesem Werk und seinen verborgenen, aber doch unbedingt hervorzuhebenden Aneignungsmöglichkeiten für das sozialistische Weltbild«. In welchem doch auch Kleist »unser« war. Zu Dichters Ehrungen 1977 stand im ND: »Kleist hat den preußischen Militarismus nicht ertragen, er musste aber erleiden, dass sein unbestechlicher Blick als eine charakterliche Abirrung beleidigt wurde.« Die Verunglimpfung einer unliebsamen Gestalt als Gemütskrüppel, das ist als Verdacht auch in Goethes Worten über Kleist ahnbar: »Sein Hypochonder ist zu arg; er richtet ihn zugrunde.«
Daran musste ich denken, als uns jetzt Leserbriefe zu einem Kinofilm über Thomas Brasch erreichten: Der Dichter erzählt darin von seiner harten, unglücklichen Kinderzeit in der Kadettenschule der NVA - seine Eltern, selbst zu sehr beschäftigt mit politischer Arbeit, hätten ihn quasi dem Staat zur Erziehung übergeben. Kein Problem für Eltern, wenn deren Prämisse lautet, Familie sei die kleinste Zelle der Gesellschaft - nach dieser Logik kann man die Kinder gleich in größere Zellen weiterleiten.
Man muss nur die Flehpost des Jungen Thomas Brasch lesen, von der Schule genommen zu werden, und dann die Antwort des Vaters, so liebevoll geschrieben und so gut gemeint - aber diese Zuneigung nagelt den Sohn nur fester an die politische Verpflichtung, der Vater ruft gegenüber einem Kinde fühllos den gesamten weltrevolutionären Kampf, die Rolle der Sowjetunion und die Notwendigkeit des Klassenstandpunktes auf. Schon Kleist kannte das: »Das bedrängte fühlend' Herz wärmte sich so gern am Geneigten der engsten Vertrauten; so aber blieb nur deren befehlendes Trachten, das einzig die höheren Gebote kennt, die dem jungen Gemüte doch noch so arg fremd sind.«
Familie, ist das nicht auch etwas anderes als Zelle? Erste Gegenwelt zur Gesellschaft? Stärkungsquell für den Eigensinn? Kräftigungsverband gegen die Verkrüppelungsanstalt Leben? Dies weiß man heute, da man sich, belehrt von Geschichte, verschiedene Dogmenpanzer von der Haut sprengte, möglicherweise besser als zu jenen Zeiten, da man selber in höheren Ideen auf- und unterging - darf man das nicht einen schönen Verlust an Gerechtfertigtsein nennen? Vieles kann man aus einer konkreten Zeit heraus erklären, aber man muss es Zeiten später doch nicht weiter so ungebrochen verteidigen; man muss auch sich selber, mit gehörigem Abstand, nicht ohne Weiteres mehr verstehen. Das ist das Glück, das aus Erfahrung spät kommt: ohne schlechtes Gewissen klüger sein zu dürfen als einst. Man kann, sich entfernend von etwas, dem man ganz gehörte, ganz zu sich selbst kommen.
Aber es lebt und lebt wohl weiter, das alte Muster: Da ist einer, der stellt sich außerhalb des Kollektivs - klingt diese Feststellung oft nicht so, als benenne man einen Defekt? Da kommt einer nicht mit (unnatürlichen!) Normen zurecht - gilt er nicht schnell als Erziehungsfall? Da hat einer früh etwas Querulantes in sich - gehört er nicht sofort und bequem zu den Unbotmäßigen? In besagter Kadettenschule lautete die Hauptaufgabe, die Kinder (Brasch war elf Jahre alt) »zu überzeugten Marxisten-Leninisten zu erziehen, die bereit sind, die Arbeiter- und Bauernmacht bis zum äußersten zu verteidigen.« Bis zum äußersten! Geht es noch härter? Kleist: »O säh' ich in der Welt nur einen einzigen Strahl Licht, der mir den Weg wiese fürs ÄUSSERSTE: die Liebe.« Das äußerst Mögliche: dargebracht der Liebe, nicht einem ideologischen Grundprinzip.
Es geht dem, der heute antimilitaristisch denkt und fühlt, gleichsam wie Öl herunter, wenn man die Militärflucht eines sich nicht in die Gemeinschaft einordnenden Jung-Offiziersanwärters aus dem 18. Jahrhundert, Kleist, hochrechnen darf zu dessen natürlichem Widerstand gegen ungute Verhältnisse. Überhaupt: Gern akzeptiert man den Gedanken des Antimilitaristischen, wenn er auf verhasste Gesellschaften angewendet werden kann - da gilt schon das Überstreifen einer Uniform als Eintritt ins Deformierende. Um noch einmal Brasch anzuführen: Dass dessen Unangepasstsein nach dem Weggang aus der DDR auch auf bundesdeutschem Boden nicht nachließ, das nahm man im Osten gern zur Kenntnis, man hält es auch heute erfrischend wach - jedoch: Jene grundlegende Erfahrung, die wesentlich zu dieser Widersetzlichkeit beitrug und die sehr viel mit Braschs Jugendjahren in der DDR zu tun hat, sie wird von Leuten, die zum Beispiel heute noch die Kadettenschule verteidigen, von konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen getrennt, sie wird ins Reservat rein privater Verhältnisse abgedrängt. Und so kann (das ist die Gabe der Gerechtfertigten) jede Kritik an der vermotteten Kadettenschule als Verunglimpfung der DDR zurückgewiesen werden. Was sie überhaupt nicht ist, weil gerade der Dichter Brasch die große Möglichkeit Sozialismus stets und überall gegen eine Wirklichkeit verteidigte, die sich als Sozialismus gerechtfertigt fühlte, ohne dies wirklich zu sein oder werden zu können. Dieses quälende Wahrheiten verdrängende Missverstehen - und nur deshalb bleibt es diskussionswert - ist ein uraltes Problem der Geistesgeschichte, es hat »verrückte«, nicht zähmbare Dichter und Narren oft genug in Heilanstalten, Gefängnisse, in Lager oder eben wenigsten, auf innerdeutsche Fluchtwege geschickt.
In jedem System, gemeint ist Kleist, gemeint ist Brasch - liegt da die Rettung nicht in jenen Menschen, die die traurige Kraft haben, unglücklich zu werden an bestehenden Zuständen? Steht jemand im Ruf, ein Schwieriger zu sein, so möge das bereits für jeden Heranwachsenden ein beglückendes Lob sein! Solche Schulen braucht das Land! Und nicht Anstalten, die eifrig jener Grundregel von Existenz zuarbeiten, die da lautet: Das unbequeme Ich stört!
In einem Gedicht von Thomas Brasch heißt es: »Mich könnt ihr kaufen. Was ich denke nicht./ Ich gehe weiter. Dankbar für den kostenlosen Unterricht.«
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