O schönes Übermaß!
Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011 (Schluss)
Seit Januar veröffentlichte »nd« in loser Folge diese Marginalien. Dies hier ist das letzte, das Abschiedsblättchen der Reihe, die uns ein wenig ins Wesen wuchs. Puzzleteile eines unendlich verzweigten, grenzenlos scheinenden Bildes, zu dem Kleist immer wieder anregte und weiter anregt - Künstler und Kritiker, Essayisten und Wissenschaftler. Wir haben Interviews mit Kleist-Leidenschaftlichen geführt, u.a. mit Johannes Grützke, Armin Petras, Albert Ostermaier, Wolfgang de Bruyn; wir haben längere Passagen aus Kleists Stücken veröffentlicht, Theateraufführungen, Lesungen, Ausstellungen und Filme zum Anlass rezensiert. Wir schwelgten frei im schönsten Übermaß! Kleist, Kleist, Kleist!
Eine Zeitung ohne Übermaß ist nicht denkbar, denn sie lebt vom ewig sich Wiederholenden jenes seit Urzeiten öden politischen Geschäfts, das Stillstand täglich ins Tollkostüm scheinbar neuer Ereignisse hineinlügt. Da ist doch ein Übermaß, geknüpft an Kleist, das schiere Gottesgeschenk. Am kommenden Montag also. Wegen des 21. November ist dieses Jahr 2011 - Kleist-Jahr. Am 21. November 1811 starb einer der größten deutschen Dichter, »der Waghalsigste der klassischen Epoche« (»Die Zeit«), Heinrich von Kleist. Wenige Tage zuvor, am 18. Oktober, hatte der 1877 in Frankfurt an der Oder Geborene noch Geburtstag gefeiert. Aber was heißt das schon?, was bedeutet sie denn, diese Berufung auf ein kürzlich noch stattgefundenes Lebensfest? Als seien im heutigen Tag ohne jeden Zweifel die Garantien zu finden, dass morgen nicht genau das Gegenteil unserer derzeitigen Beteuerungen, Bemühungen, Bestrebungen geschieht.
Dieses Jahr 1811. Kleist vollendet »Die Verlobung in St. Domingo«. Es gibt eine pantominische Darstellung von »Penthesilea«-Szenen im Nationaltheater. Es erscheinen »Erzählungen, Band II.« Aber der Dichter verzweifelt zusehends wegen aussichtsloser finanzieller Lage und der weiter bestehenden Ablehnung seiner Dichtungen. Er befreundet sich mit Henriette Vogel, sie beschließen, gemeinsam zu sterben. Henriette, verheiratet mit einem Beamten, leidet an Unterleibskrebs; unklar ist bis heute, ob beide nicht vielleicht mehr miteinander verband als der Todeswunsch.
Am Vormittag des 20. November schreibt er Abschiedsbriefe, nachmittags trifft er mit Henriette im Gasthof »Stimmigs Krug« bei Potsdam ein. Nachts weitere Abschiedsbriefe. Am 21. November gegen sechzehn Uhr erschießt Kleist am Kleinen Wannsee erst Henriette Vogel, dann sich selbst. Vorher Kaffee und Rum, serviert unter freiem Himmel, obwohl der Tag kalt ist. Bis in die Gaststube hinein hört man das Lachen des Paares. »So zum Beispiel sprang die Mannsperson über die Bretter der Kegelbahn«, sagt ein Zeugenbericht, die junge Dame sei zu Gleichem angestachelt worden, was sie aber ausschlug. Man schreibt einander noch zwei übermütige, in ihrem Pathos fast perlend ausgelassen und ironisch wirkende Abschiedsbriefchen. Diese außergewöhnliche Finalstimmung erschreckt noch immer: rauschhaft beschwingt, aufreizend tänzelnd geradezu geht man den letzten Weg an.
Die Wahrheit sei, so hatte Kleist seiner Schwester Ulrike geschrieben, »dass mir auf Erden nicht zu helfen war.« Der Romancier Martin Mosebach dazu: »Auch als lutherischer Christ hätte Kleist schon früh davon gehört haben müssen, dass es keinen einzigen Menschen gibt, dem auf Erden zu helfen wäre.« Hans-Dieter Schütt
Am Montag im »nd«: Gunnar Decker zum 200. Todestag von Kleist
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