Maschinist der Mysterien

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
"Penthesilea", Schauspiel Bochum 2007
"Penthesilea", Schauspiel Bochum 2007

Kleist liebte Meldungen vom Tage. Je alltäglicher, desto besser. Je unwahrscheinlicher, desto willkommener. So eine wie die folgende hätte er sehr gemocht: die von jenem Formel-1-Rennfahrer, der vor fünfzig Jahren auf der Rennstrecke in Monza starb. Er wurde, weil er nie angeschnallt fuhr, in einer Kurve bei Tempo 240 km/h aus dem Wagen geschleudert, prallte an einen dreißig Meter entfernten Zaun, der ihn wieder zurück an den Straßenrand warf. Natürlich war er sofort tot, das war zu erwarten. Es wäre keine Kleist-Anekdote geworden, wenn er auf wundersame Weise überlebt hätte. Wenn jemand mit viel Glück davonkam, interessierte das Kleist nicht.

Der Rennfahrer, das fiel denen auf, die ihn damals sahen, hatte keine Schramme am Leib - nur einen kleinen Bluterguss an der Wirbelsäule. Dort allerdings war das Genick gebrochen. Auch ohne diesen Unfall hätte der Rennfahrer den Tag nicht überlebt. Das Flugzeug, auf das er noch am selben Tag gebucht war, stürzte ab, alle Passagiere starben. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei tödliche Unfälle an einem Tag auf uns warten? Das ist eine der Fragen, die ins Zentrum von Kleists Denken führt, das immer zugleich ein Sehen ist: Wie wahrscheinlich ist die Wahrheit?

Ein scheinbarer Nebenschauplatz verrät einiges über die paradoxe Kleist-Welt. In dem Aufsatz »Über das Marionettentheater« zeigen sich zwei gegensätzliche Kräfte im Widerstreit: das Mysterium und die Mechanik. Rilke hat - die Kleistschen Überlegungen zum Marionettentheater aufnehmend - über die Puppen nachgedacht und kommt zum erstaunlichen Befund: Was wir in der Hand halten, ist bloß tote Materie, eine kleine Maschine, die auf Zug von Fäden hin Arme und Beine bewegt - alles was sie zum Leben erweckt, bringt der Betrachter ihr entgegen: die Bereitschaft zum Wunder, der Wille, sich verzaubern zu lassen. Trotzdem: Die Marionette, die einem fremden Willen dient, simuliert Leben nur. Das ist das Geheimnis aller Kunst für Kleist: Sie ist künstlich, ein Maschinenprodukt. Er spricht direkt vom »Maschinisten, der die Puppen regiert«.

Worauf es jedoch ankommt bei dieser klaren, Vernunftgründen folgenden Funktionsweise der Puppe: dass »in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könnte, als in dem Bau des menschlichen Körpers«. Das paradoxe Resultat dieser Anwendung von mathematischen Formeln: Die tanzenden Puppen werden »antigrav«, sie unterliegen, wenigstens momentweise, nicht mehr der Schwerkraft, sie scheinen zu fliegen. »Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen...« Da wird eine Brücke geschlagen von der Arbeit des »Maschinisten« (einem Handwerker, der die Griffe kennt, ebenso aber auch Gott, das Urbild aller Schöpfer) zur wundersamen Welt der Elfen, einer Fabelwelt, die darum »antigrav« ist, weil in ihr andere, fantastische Gesetze gelten. Die nur versteht, wer alles vergisst, was er bisher zu wissen glaubte.

Es gibt für Kleist eine neue Unschuld des Erkennens, die in denen erwacht, die von der Gnade einer Gewissheit bestimmt sind, wieder ganz am Anfang zu stehen. Sie tragen alle Hoffnung in sich: nach einem Unglück, einem übergroßen Schmerz, der ihnen das Glück des Gedächtnisverlustes bescherte. Hier blicken wir durch den Spalt einer gewöhnlich fest verschlossenen Tür: dahinter das Paradies. Dies setzt eine außerordentliche Erregung voraus - um zum Durchstoßen der bestehenden Ordnung, ihrer Maßstäbe und Zeitvorstellungen, zu gelangen. Kleist schüttelt das Weltbild der Aufklärung ebenso wie das des Weltgeistdenkers Hegel (in dem ein mittelalterlicher Scholastiker wiedergeboren zu sein scheint), so lange durch, bis aus den Ritzen der Vernunft all die Dinge fallen, die der Rationalist nicht kennt: Zufall, Affekt, Natur, Magie, wundersame Begebenheiten aller Art.

Der Irrtum, in dem der Mensch bei Kleist gefangen über die Erde wandert, er liefert ihn nicht der Vernichtung aus (das ist Sache der Notwendigkeit), sondern beschützt ihn - wenn auch nur für Momente und oft, ohne dass der zunächst Davongekommene diesen Irrtum zu begreifen vermag: »Es gibt gewisse Irrtümer, die mehr Aufwand von Geist kosten, als die Wahrheit selbst.« Der Mensch bei Kleist wird zum Weltenwechsler aus Überlebensinstinkt: Er spielt mit im großen Spiel, dessen Einsatz er nicht kennt. Sein höchster Einsatz dagegen liegt offen: sein Leben.

Dem »Erdbeben von Chili« zum Beispiel liegt das Erdbeben von Chile 1647 zugrunde. Für Hegel liegen derartige bewusstlose Naturaktionen unterhalb der Schwelle der Geschichte als einem Prozess der Synthese von Historischem und Logischen. Das heißt, Geschichte wird immer geisthaltiger - in der Theorie. Aber die Praxis bleibt eben doch das dunkle Loch, immer bereit, den allzu selbstbewusst Voranschreitenden zu verschlingen.

Kleist blickt anders auf die lebendigen Dinge: Er dichtet an einer »Physiognomie des Augenblicks«, des blinden Flecks in der Optik des Rationalismus. Das lässt klarer sehen; für Momente offenbart sich etwas. Plötzlich ist der Vorhang weggezogen, den eine alte Ordnung mit aller Gewalt geschlossen hielt; Angst verschwindet, der Mensch ist tatsächlich frei. Aber mit derselben Plötzlichkeit ist es auch wieder vorbei.

Ironische Distanz kommt mit Kleist ins Spiel, aber es ist die romantische Ironie, die mit jener des Hegelschen Weltgeistes konkurriert. Kleist dichtet jenes Endspiel zwischen dem Einzelnen und der Welt, das bei Beckett dann in die ermüdende Verlängerung geht. Soll man Wahrheiten, für die in Kleists Texten gekämpft, gestorben wird, denn nicht mehr so ganz und gar glauben? Ja und nein - Skepsis ist im Spiel, man muss sich in jeder Situation neu entscheiden, wo man mitgeht oder bloß distanziert zuschaut. Das macht die innere Spannung in den Texten aus. Es könnte sich auch um Vorurteile und Illusionen, mithin um Betrug, handeln. Der Erzromantiker Kleist entpuppt sich als Aufklärer - jedoch einer ohne Optimismus.

Kleists Helden trifft nicht nur das Schicksal mit aller Macht, sie haben auch wie ganz normale Menschen mal Glück und mal Pech im Leben. Und manchmal entscheiden sie sich falsch, was Konsequenzen hat. Oft eben auch tödliche Konsequenzen. Denn das Pogrom, jene Massenhysterie, die für jeden Außenseiter tödliche Glaubensgewissheit des Kleinbürgers, sitzt immer auf dem Sprung - darum geht es auch in »Das Erdbeben von Chili«.

Anlass ist die durch ein Erdbeben vereitelte Hinrichtung einer Nonne, die schwanger geworden war. Die Vorgeschichte jedoch scheint bereits der eigentliche Gewaltakt zu sein. Der Vater der Nonne hatte zuvor den jungen Mann, den sie liebte, abgelehnt (vermutlich aus bloßer Eifersucht) und, da die Geliebten einander nicht entsagten, die Tochter ins Kloster geschickt. Nun hatte sie dort ein Kind von jenem Manne bekommen, der sie unter anderen - normalen - Umständen geheiratet hätte. Jetzt aber wird die Nonne nach dem Kirchengesetz zum Tode durch Enthaupten verurteilt. Auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte jedoch stürzt durch das plötzliche Erdbeben fast die gesamte Stadt ein.

Die dem Tode glücklich Entronnene findet unter den Überlebenden sogar ihren Geliebten wieder. Doch sie fliehen nicht. Warum? Weil die anderen Überlebenden, die eben noch ihrer Hinrichtung zuschauen wollten, plötzlich ihr Gedächtnis verloren zu haben scheinen. Alle sind so freundlich miteinander und dankbar, dass sie noch leben und blicken nach vorn. Psychologie der Stunde Null. Man ist, im Schatten einer Katastrophe, zur Versöhnung bereit. Aber bald meldet sich die alte Ordnung wieder, hier in Gestalt eines Dankgottesdienstes in einer intakt gebliebenen Kirche. Da erwacht der alte Mordinstinkt der Masse wieder, aufgepeitscht von jenem Fanatiker, der immer zur Stelle ist, wenn es darum geht, die bestialischen Gelüste der Masse zu befriedigen ...

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