Teuflischer Triumph
Opern-Neustart in Stuttgart: »Fausts Verdammnis« von Hector Berlioz
Ausgerechnet das bieder geschäftige Stuttgart ist in letzter Zeit immer für eine Überraschung gut. Da geraten die Schwaben so in Wut über einen Bahnhofsumbau, dass sie den »Wir sind das Volk«-Aufstand proben und die scheinbar unantastbare schwarze durch eine grün geführte Regierung ersetzen. Ob das den Bahnhofstunnel verhindert, steht freilich dahin. Opernfreunde indessen kann die schwäbische Renitenz kaum verwundern, denn die Oper in Stuttgart gehört seit Langem zum Aufmüpfigsten, was die Theaterrepublik zu bieten hat.
In anderthalb Jahrzehnten unter Klaus Zehelein zum ästhetisch innovativsten Haus aufgestiegen, und auch in den fünf Jahren unter seinem zuweilen etwas glücklos agierenden Nachfolger Albrecht Puhlmann nicht von der Bildfläche verschwunden, gibt es dort jetzt erneut einen wohlkalkulierten und erfolgversprechenden Neuanfang. Nicht nur, dass der allseits geschätzte Schauspiel- und Opernregisseur Jossi Wieler (mit einem der klügsten Dramaturgen, Sergio Morabito, an seiner Seite) Intendant wurde.
Als leitende Regisseurin hat er sich die aus Dresden stammende Andrea Moses geholt, die ihre Position als erfolgreiche Chefregisseurin des Anhaltischen Theaters in Dessau dafür vorzeitig aufgegeben hat. Das ist zwar schade für Dessau, doch waren bei der Premiere von Hektor Berlioz‘ »La Damnation de Faust«, mit der sie die Stuttgarter Spielzeit eröffnete, auch viele ihrer Dessauer Fans und Kollegen im Publikum. Obwohl dieses Werk aus der Mitte des vorvorigen Jahrhunderts kein szenischer Selbstläufer ist, bekamen sie genau das opulente, spannende, mit perfekter Personenführung psychologisch lotende, dabei hochpolitische Theater, das sie von Moses' Dessauer Inszenierungen gewohnt sind.
Dass nicht jeder die rot-weiß-grüne Fahne, die sich gleich am Anfang hinter dem Wohnwagen wie eine Wand herabsenkt, auf Anhieb als Nationalflagge Ungarns (und eben nicht Italiens) erkennt, gehört mit in den Kontext jener peinlichen Verdrängung und schmerzlichen Ohnmacht, die die deutsche Öffentlichkeit bislang davon abhält, das, was in Ungarn derzeit an gesellschaftlichem »Umbau« passiert, als die Schweinerei zu benennen, die es ist. Gegen die Globalisierung oder die Banken zu protestieren und die Feuilletonseiten mit halbgarer Kapitalismuskritik zu füllen, ist eben allemal komfortabler, als sich gegen das Wiederaufleben von finsterstem Antisemitismus und Antiintellektualismus, direkt vor unserer Haustür, zu wenden.
In Stuttgart haben sich Andrea Moses und ihr Ausstatter Christian Wiehle die ziemlich willkürliche Verlegung einiger der von Goethe geborgten Faust-Episoden durch Hektor Berlioz in die ungarische Puszta indessen nicht entgehen lassen. Sie zeigen im doppelten Wortsinn Flagge. Erst sieht man Faust, als jungen Mann von heute, allein vor einem Wohnwagen Trübsal blasen und seinen Weltüberdruss pflegen, den er allenfalls noch für selbstgedrehte Videos kreativ umzumünzen versteht. Das da einbrechende turbulente Volk erweist sich schnell als eine Sinti-Hochzeit, die den Außenseiter gerne mit einbezieht. Plötzlich aber, zum (dramaturgisch im Grunde überflüssigen, aber zündend eingängigen) Rákóczi-Marsch, marschieren die Uniformierten des neuen Ungarn auf, dreschen auf die ganze Gesellschaft ein, bis die in der Versenkung verschwunden ist. Auch bei dem Ausflug in Auerbachs Keller wird mit gezogenem Säbel Militanz demonstriert. Hat Faust die Prügelorgie noch als Beobachter nur gefilmt, so greift er bei einer gerade beginnenden Bücherverbrennung immerhin im letzten Moment ein.
Moses erzählt aber auch die Geschichte von Fausts Suche nach sich selbst und der Verführung durch Mephisto. Lässt dieser Marguerite zunächst als seine Assistentin dieses Spiel mitspielen, so kommt die erwachende Liebe zwischen Faust und Marguerite seinen Plänen in die Quere. Faust unterschreibt den Teufelspakt, anders als bei Goethe, erst, als er kein anderes Mittel mehr sieht, um die des Muttermordes angeklagte Geliebte zu retten. Das geht natürlich schief. Die Kolateralschäden bei der rasenden Fahrt zu ihr (auf dem Sofa in einem schwindelerregenden Video-Geschwindigkeits-rausch) müssen gewaltig sein. Der Teufel triumphiert mit ziemlichem musikalischem Pomp. Faust wird in eine Homunculus-Kugel verfrachtet und endet als possierliches menschliches Insekt und drohendes Beispiel für menschlichen Eigensinn.
Den dramatischen Notausgang in Richtung verklärender Erlösung versperrt Moses mit einer radikalen, antiklerikalen Pointe. Aus dem Schnürboden hängende Strippen-Kulissen assoziieren zwar einen Kirchenraum, Marguerite hat es zur Marienfigur gebracht und der auftauchende Zeremonienmeister, der dieser Maria persönlich eine Hostie in den Mund schiebt, ist in päpstliches Weiß gehüllt. Wenn sie daran erstickt und sich der Mann im Papstornat als niemand anderer als der Teufel entpuppt, dann hat die Inszenierung zum brisanten Auftakt auch noch einen spektakulären Abschluss gefunden.
Musikalisch geht dieser Neuanfang ebenso triumphal über die Bühne wie szenisch. Unter der Leitung von Kwamé Ryan laufen das Staatsorchester Stuttgart und der exzellente Chor zur Hochform auf. Und mit Robert Hayward als Méphistophélès, Pavel Cernoch als Faust und Maria Riccarda Wesseling als Marguerite stehen genau die vokal und darstellerisch überzeugenden Protagonisten auf der Bühne, die das vitale Musiktheater der Andrea Moses mit Leben erfüllen können. Den nahezu geschlossenen Jubel darf sie getrost als ein herzliches Willkommen verbuchen.
Nächste Vorstellung: 27.11.
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