US-amerikanischer Herbst
»Es ist unmöglich eine Idee zu unterdrücken, deren Zeit gekommen ist« - Optimismus trotz Camp-Räumung
Eine Woche nach der gewaltsamen Räumung des Occupy-Wall-Street-Camps in New York sind die Spuren der Besetzung immer noch zu finden. Wenn man der Trinity-Straße in Lower Manhattan von Nord nach Süd folgt, passiert man rechter Hand zuerst die riesige Baustelle des wieder zu erbauenden »One World Trade Center«, lässt dann links Shopping-Mall »Century 21« liegen und erreicht schließlich einen kleinen steinernen Platz: »Zuccotti Park«. Ein Bruch im Kontinuum der grauen Straßen und glitzernden Hochhäuser. Mitten im Herzen des Finanzdistrikts die utopische Versuchsstation und Vorahnung einer alternativen Gesellschaft, in der die Währung »Solidarität« heißt. Was ist aus dieser geradezu körperlich spürbaren utopischen Energie, diesem Stoff, aus dem politische Graswurzel-Bewegungen sind, geworden?
Neue Plätze und Räume
Auf den ersten Blick bietet sich ein trauriges Bild: Der Park ist abgesperrt, am Eingang stehen Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes, die Besucher hineinlassen müssen, weil der Park ein öffentlicher ist. Betritt man ihn und mischt sich unter die 50 bis 100 Anwesenden, weitet sich die Perspektive: Leute diskutieren, hier über Monsanto, dort über das Gesundheitssystem. Auch der Infotisch ist wieder da, mit drei in Folie eingeschweißten Zetteln, auf denen die wichtigsten Internet-Adressen stehen und eine Handynummer, über die man SMS-Updates abonnieren kann.
Justin, der gerade Info-Schicht schiebt, verweist auf einen Innenraum, in dem sich die Arbeitsgruppen (AGs) treffen, Adresse: »60 Wall Street«. Gegen den Strom der in Richtung Subway strömenden Banker geht es also die Wall Street hinauf, an der Börse vorbei. Hausnummer 60 ist die Deutsche Bank. Der Portier weist auf eine Tür, die sich in ein Atrium mit kleinen Imbissen öffnet - und da sind sie plötzlich: die Stuhlkreise, die Plenen, die AGs - dezent im Hintergrund mit zwei Polizisten dekoriert. Diese können nichts unternehmen, denn auch dieser überdachte Innenhof ist ein öffentlicher Raum.
Ein Plenum bereitet die abendliche Vollversammlung vor. Die basisdemokratischen Abläufe scheinen gut zu funktionieren, auch wenn einige der Aktiven schon müde aussehen. Sie achten auf ihre Umgangsformen und legen Wert auf die Offenheit des Prozesses, der vor sich verfestigenden Machtstrukturen bewahrt werden soll. Aber neben der Mikro- kommt auch die Makroebene zur Sprache: Ein paar Schritte weiter sprechen junge Menschen über die »Schwester-Revolution« in Ägypten, über die mindestens 35 Toten allein am vergangenen Wochenende.
Daniel kommt aus New Jersey. Der 27-Jährige ist nach der Massenverhaftung von 700 Menschen auf der Brooklyn Bridge am 1. Oktober spontan nach New York gekommen und zum Campen in den Zuccotti-Park gezogen. Gerade baut er eine Handbibliothek über Basisdemokratie, Konsens und Moderation auf. In seinen Augen ist der Bewegung trotz der polizeilichen Repression der Übergang von einer lokalen Besetzung zu einem politischen Netzwerk gelungen.
Das Ende der spezifischen Herausforderungen der Zuccotti-Besetzung (Kälte, Regen, Straßenlärm und das Verbot von Zelten, Generatoren, Dixi-Klos, Duschen etc.) hat organisatorische Kapazitäten freigesetzt, die jetzt in die flexible Bespielung des Zuccotti-Parks und anderer Plätze, in die Verstetigung des Engagements, in die Verbreiterung und Vertiefung der Themen gesteckt werden können.
Ein fruchtbarer Boden
Occupy Wall Street ist der fruchtbare Boden, auf den nun viele kleinere politische Widerstandsbewegungen und soziale Kämpfe fallen: Es geht um Instandbesetzungen, Armenspeisungen, Mindestlohn, rassistische Polizeipraktiken, US-Kriege, Abschiebungen, das Gefängnissystem oder geplante Generalstreiks.
Die 40-jährige Melody hält die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften für einen Erfolg der Bewegung, sieht aber auch innere und äußere Gefahren. Obwohl die AktivistInnen ein bunter Haufen sind, sorgt sie sich um die Vielfalt der Bewegung, also die Einbindung von Älteren, MigrantInnen oder Obdachlosen. Andererseits ist die Bewegung so kreativ, dass sie ständig neue Lösungsstrategien hervorbringt: Es gibt mittlerweile einen Ältestenrat, einen »black caucus« (»Schwarzen Ausschuss«) und Initiativen in armen Stadtteilen wie »Occupy the hood«. Melody befürchtet weitere Repression und Polizeiprovokationen sowie die Vereinnahmung durch die Politik. Insgesamt ist sie jedoch optimistisch: »Dies ist kein kurzlebiger Protest, sondern ein Prozess.«
Eben dieser Prozess der Wiederaneignung demokratischer Teilhabe hat innerhalb von zwei Monaten die politische Landkarte der USA neu aufgerollt und sowohl einen physischen als auch einen diskursiven Raum geöffnet, in dem die Verarmten, Entrechteten und Empörten dieser ungleichen Gesellschaft sich begegnen, austauschen und ihre Energie in selbstbestimmtes politisches Handeln umsetzen können.
Ein klassenbewusstes Narrativ wie das der »99 Prozent gegen ein Prozent« und das Gefühl, nicht allein zu sein und sich organisieren zu können, waren in den USA zarte Pflänzchen, deren Ranken sich nun neue Wege bahnen. Die öffentliche Meinung steht der Bewegung in der Mehrheit positiv gegenüber. Sogar Mainstream-Medien berichten außergewöhnlich viel über Occupy, wobei die Bewegung sich lieber auf ihre eigenen Medien verlässt, wie die Stadtzeitung »The Indypendent«, das »Occupied Wall Street Journal« oder der Radio-/ TV-Sender »Democracy Now!«.
Mit einem raschen Abflauen der Bewegung rechnen die Aktiven jedenfalls nicht. Sie planen bereits ein großes Frühlingsfest, auf dem der überstandene Winter gefeiert werden soll.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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