Im Teufelskreis der Armut
Nach neuesten Studien ist jeder dritte USA-Bürger betroffen
Die Schulbehörden in allen 50 US-Bundesstaaten melden in diesen Tagen immer wieder übereinstimmend eine Beobachtung an übergeordnete Stellen: eine rasche Zunahme von Kindern, die aufgrund der Notlage ihrer Familien ein subventioniertes Schulessen benötigen. Darunter seien vielfach Kinder aus noch vor kurzem »soliden Mittelklassefamilien«, die bis dahin »noch nie in die Verlegenheit gekommen« seien, ein bezuschusstes Essen erbitten zu müssen. Die »New York Times« beleuchtete jetzt eingehender Daten des Landwirtschaftsministeriums in Washington, das für das Schulspeisungsprogramm zuständig ist. Das Blatt kam zu dem Schluss, dass die Zahl der hilfsbedürftigen Kinder im abgelaufenen Schuljahr 2010/11 auf 21 Millionen gestiegen sei - drei Millionen (17 Prozent) mehr als im Schuljahr 2006/07, vor Beginn der seitdem flächendeckenden Wirtschafts- und Finanzkrise der USA.
Die Meldung aus dem Schulbereich fügt sich in ein Bild, wonach der Armutsteppich noch weiter reicht, als die alarmierenden Zahlen im Frühherbst erkennen ließen. Mitte September hatten Schlagzeilen von 46,2 Millionen US-Bürgern - fast jeder sechste - unter der Armutsgrenze berichtet. Doch die nun erfolgte eingehendere Analyse der jüngsten Volkszählung von 2010 legt eine wesentlich dramatischere Diagnose nahe. Ein Leitartikel der »New York Times« fasste die Lage mit den Worten zusammen: Jeder müsse heute »eine Gänsehaut erzeugende Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen: Einer vor drei Amerikanern - rund 100 Millionen Menschen - ist entweder arm oder der Armut gefährlich nah«. Schon vor dem jüngsten Anstieg war die US-amerikanische Armutsquote die höchste unter allen entwickelten Staaten.
Als Armutsgrenze gilt in den USA ein Jahreseinkommen von - je nach Berechnungsart - 22 113 bis 24 343 Dollar für eine vierköpfige Familie. Unter dieser Summe liegen derzeit amtlich 49,1 Millionen Bürger. Weitere 51 Millionen Menschen leben nach Berechnungen eines Expertenteams der »New York Times« jedoch nur geringfügig oberhalb dieser Schwelle und müssten gleichfalls als »faktisch arm« beurteilt werden.
Die gutbürgerliche Zeitung setzt sich in diesem Zusammenhang kritisch mit Angaben der »Heritage Foundation« auseinander. Einer der Fachleute dieser rechts stehenden Denkfabrik, Robert Rector, hatte sich gegen »die emotional aufgeheizten« Begriffe »arm« oder »so gut wie arm« gewendet, weil sie den Eindruck »einer materiellen Notlage vermittelten, die nicht existiert«. Rector verwies zur Begründung auf die 30 Kriterien der Heritage-Stiftung für sogenannte Haushalts-»Annehmlichkeiten« wie das Vorhandensein von Kühlschrank, Kaffeemaschine oder Handy und kritisierte, dass ein Haushalt mit durchschnittlich 14 von 30 solcher Geräte als typisch armer Haushalt gelten solle.
Die Experten der »New York Times« halten die »Heritage«-Kriterien dagegen für eine Milchmädchenrechnung und erklären: »Die Zählweise ignoriert die Tatsache, dass viele dieser Haushaltsgegenstände normale Requisiten des heutigen Lebens sind, während gleichzeitig andere wesentliche Dinge für Arme und Fast-Arme - Bildung, gesundheitliche Betreuung, Kinderbetreuung, Wohnung sowie Gas, Wasser und Strom - zunehmend unerreichbar sind, obwohl sie die wirklichen Faktoren eines guten und perspektivreichen Lebens verkörpern.«
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