Die Not der Noten

ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 5 Min.

Die unverhoffte Wirkung
Wenn du die Kinder ermahnst, so meinst du, dein Amt sei erfüllet.
Weißt du, was sie dadurch lernen? - Ermahnen, mein Freund!
Heinrich von Kleist

Die Note ist der Fluch der Bildung. Sie wird in ihren Fähigkeiten, Situationen zu beurteilen und Entwicklungen zu steuern, weit überschätz. Das erste Zeichen dieser Überschätzung ist der Sprachgebrauch von den »guten« und den »schlechten« Noten. Damit werden Menschen in zwei Gruppen geteilt, eine gute und eine schlechte. Es gibt jetzt gute und schlechte Schüler, beispielsweise. Schon Kinder lernen, sich selbst nach diesem Muster zu beurteilen, sie fürchten sich vor ihm, und sie verschmelzen mit ihm nach dem seelischen Gesetz der Identifizierung mit dem Angreifer.

Das banalste und auch bösartigste Instrument, um imaginären Gefahren zu entgehen, ist das Werturteil. Es fällt nicht weiter auf. Unsere Welt ist von Bewertungen durchsetzt. Manche ändern etwas, manche stellen etwas fest, viele richten Schaden an, weil es ihre einzige Funktion ist, die Angst zu beschwichtigen, dass etwas so sein könnte, wie wir es nicht haben wollen. Manchen Menschen sitzt das Werturteil so locker wie dem Revolverhelden der Colt. Es geht nicht um Recht oder Unrecht, Sinn oder Unsinn, sondern nur darum, der schnellere Schütze zu sein.

Es wird aus der Hüfte gefeuert. Kaum ist ein Problem identifiziert, trifft es schon das Urteil, um die eigene Überlegenheit auf Kosten eines anderen zu blähen. »Du bist dick, so findest du nie einen Mann«, sagt die Mutter zur Tochter. »Schau mal auf Nachbars Mäxchen«, sagt der Vater zum Sohn. »Der schreibt Einsen und macht seinen Eltern keinen Kummer!« »Andere Männer verdienen richtig gutes Geld«, sagt die Frau zu ihrem Partner. »Nur wir haben es zu nichts gebracht!«

Im Orient wird die Geschichte vom Tod in Samarkand erzählt: Ein Händler im Basar läuft zu einem Freund und fleht ihn an, seinen Laden zu hüten, er müsse nach Samarkand fliehen, denn er habe den Tod gesehen. Am Abend dieses Tages kommt der Tod in den Laden des Freundes. »Etwas hat mich heute morgen sehr erstaunt«, sagt er. »Könnte es sein, dass das Geschäft neben dem deinen einem Mann gehört, den ich morgen in Samarkand holen soll?«

Unheil als Folge des Versuchs, Unheil zu vermeiden, ist ein Motiv von Märchen, Mythen und Tragödien. Angst ist kein brauchbarer Ratgeber. Unter ihrem Diktat greifen wir nach Lösungen, die ärgere Probleme schaffen. Aus imaginären Gefahren werden reale Katastrophen. Panische Flucht führt in den Rachen des Übels, das wir meiden wollen.

Eine fröhliche Dicke findet eher einen Mann als eine deprimierte Dünne; ein Kind, das sich unerwünscht fühlt, weil ihm gute Beispiele vorgehalten werden, wird bestimmt keine Einsen schreiben. Der als Versager beschriebene Ehemann wird keine stolze Karriere machen, sondern seine Frau noch mehr enttäuschen, indem er sich eine Männerclique sucht, die nach Feierabend zusammen sitzt, Bier trinkt und über Weiber schimpft, denen man es nicht recht machen kann.

In Familien denken Eltern, dass sie ihren Kindern Gutes tun, indem sie diese ständig bewerten und so auf den richtigen Weg bringen. Bald sehen sich aber auch die Eltern Bewertungen durch ihre Kinder ausgesetzt. Das Kind, dem Nachbars Mäxchen vorgehalten wird, muss nicht weit gehen in seinen Gedanken, um herauszufinden, dass dieses Mäxchen auch tüchtigere Eltern hat. Gefühlsbeziehungen zerbrechen unter der Last von gegenseitigen Bewertungen; über den Graben werden dann ganze Salven abgefeuert: Versager! Sargnagel! Missratener Sohn! Missbraucher! Geizhals!

Einmal ausgesprochene, kränkende Urteile bohren sich mit Widerhaken in die Psyche und vergiften für immer das Verhältnis zu dem, der den Pfeil abgeschossen hat und sich vielleicht schon gar nicht mehr daran erinnert.

Nichts ist leichter und billiger, als sich bessere Ehemänner, Kinder oder Mitarbeiter vorzustellen. Aber die eilfertige Note macht die Beurteilten meist nicht besser. Dennoch ist kaum ein Zweig sozialer Tätigkeit in den letzten Jahrzehnten so gewachsen wie Bewertungen. In Magazinen werden Zahnärzte und Chirurgen bewertet, Schüler bewerten ihre Lehrer, jeder Dozent wird evaluiert, und manche Unternehmen bilden sich etwas darauf ein, dass Vorgesetzte und Mitarbeiter sich einer Prozedur unterziehen, die man 360 Grad-Beurteilung nennt, weil jeder jeden rundum bewertet. In den Illustrierten kann sich der Leser selbst testen und herausfinden, ob er ein guter Liebhaber, Verlierer oder Helfer ist. Staaten fürchten sich vor Bewertungen ihrer Kreditwürdigkeit und geben deshalb den Rating-Agenturen schlechte Noten.

Ich sehe in dieser Bewertungsfreude ein Signal für wachsende Gefühle von Angst und Ohnmacht. Wir können wenig tun, aber viele Noten verteilen. Haben nicht, als wir klein und hilflos waren, Lehrer und Eltern auf uns ganz überzeugt gewirkt, sie würden uns durch Noten den Weg zum Guten, zum Erfolg zeigen?

Ganze Nationen sind damit beschäftigt, ihre miese Situation zu evaluieren und nach denen zu suchen, die an den schlechten Noten schuld sind. Aber auf diesem Weg werden die schlechten Noten nur zirkulieren. Erst wenn wir beginnen, über unsere Ängste zu sprechen, wird eine neue Entwicklung möglich sein.

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