- Kultur
- Politisches Buch
Besuch im Fegefeuer
Erste Briefe aus dem antifaschistischen Exil
Unter dem Pseudonym Detlef Holz hatte Walter Benjamin im Exil (1936) eine Briefsammlung mit dem Titel »Deutsche Menschen« herausgegeben, eine Sammlung von 25 Briefen aus den 100 Jahren zwischen 1783 bis 1883. War das ein Zufall? Was trieb ihn an, diese Sammlung zu editieren? Im Originaltext nicht veröffentlicht, geben jedoch seine Notizen darüber Auskunft.
Sein Ziel war es, das »Antlitz des ›geheimen Deutschlands‹ zu zeigen«. Und er nennt auch gleich Namen: An erster Stelle steht derjenige, »der als Delegierter der Stadt Mainz nach Paris« ging - der deutsche Jakobiner Georg Forster, der der Revolution bis zuletzt treu blieb, eine Seltenheit in deutschen Landen. Bis zu seinem Tode blieb er, der Emigrant, den man längst in Deutschland geächtet hatte, in der Hauptstadt der Revolution. Damit beschrieb Benjamin mittels einer historischen Camouflage seine eigene Lage. Er nutzte die Spezifik des Briefes als Dokument der Zeitgeschichte, denn ihm ist die individuelle Fokussierung nach innen eigen, dabei die 0berfäche der Gesellschaft verlassend. Denn: Das subjektive Bild der Briefprosa wirkt authentisch und provoziert zugleich mit unverstelltem Blick. Der Briefschreiber fordert zum Rezipieren auf, versteht den Gesellschaftsmechanismus aus der Befindlichkeit eines Menschen, der Betroffenheit und Leidenschaft, auch Freude und Angst. Benjamin wählte Briefe aus, die humane Haltungen demonstrieren. Das einst Dagewesene wurde geradezu kontrapunktisch der Gegenwart des Nationalsozialismus entgegengesetzt.
Was wäre die Weltliteratur ohne die Existenz der Briefe? Fritz Kortner, der Emigrant, wusste, wovon er sprach, als er forderte, Briefe sollten so geschrieben werden wie schriftstellerische Arbeiten, wenn sie Wichtiges mitteilen wollen. Freilich, die Bandbreite der Exilbriefe ist groß, denn sie handeln von Flucht und Vertreibung, von Erfahrungen, Wünschen, Enttäuschungen, Hoffnungen, aber auch vom »Herzasthma des Exils« (Thomas Mann) und Leben und Tod. Zuweilen ist es auch der letzte Brief, der Abschied für immer. Erinnert sei an Kurt Tucholsky, Ernst Toller und Stefan Zweig, die die Nazi-Höllenfahrt nicht mehr ertrugen. Hermann Kesten, auch Emigrant, selbst Herausgeber von Briefen europäischer Autoren, hatte wohl recht, als er schrieb: »Briefe aus dem Exil herauszugeben, heißt ein zweites Mal ins Exil zu gehen. Es ist wie ein Besuch im Fegefeuer … Nicht nur die Dichter waren im Exil, aus dem so wenige heimgekehrt sind. Auch die Briefe waren im Exil … Auch sie) sind zu Tausenden verbrannt, verschüttet, geschändet worden.«
Nun hat die Edition text+kritik, die seit Jahren verdienstvoll die Ergebnisse der Exilforschung publiziert, einen weiteren Schritt nach vorn gemacht. Primus-Heinz Kucher, Johannes Everlein und Helga Schreckenberger analysierten Briefe von deutschsprachigen Exilanten, die nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa von bekannten Schriftstellern und Künstlern geschrieben wurden.
Was sind »Erste Briefe«? Der amerikanische Soziologe David Kettler nennt sie »Zeugnisse für die Dynamik und die Dilemmata von Exil und Rückkehr«. Diese sind zumeist an Menschen gerichtet, die die Schreiber von früher her kannten, die aber in der NS-Zeit in Deutschland oder Österreich geblieben waren. Zu diesen Briefen zählen auch solche, in denen die Emigranten an sie zuerst gerichtete Schreiben beantworteten.
Die Herausgeber des Bandes erleichtern dem Leser durch ein aussagekräftiges Vorwort über die Vielfalt und Spezifik der »Ersten Briefe« den Zugang zu jenen. Die Unsicherheiten der Briefschreiber waren oft größer als angenommen. Ein problemloses Anknüpfen an das Leben vor 1933 bzw. 1938 erwies sich als unmöglich. Die Frage lautete immer, oft verschlüsselt: Welche »Dinge« haben sich entweder im Exil und welche bei den »Daheimgebliebenen« ereignet? Und wie haben diese auf den Briefschreiber gewirkt?
Jeder, der korrespondierte, forderte in der Regel die Anerkennung gewonnener Identitäten. Folglich waren die Briefverfasser immer, mehr oder weniger, offen und bekenntnishaft. Die Dynamik wuchs immer dann, wenn das Thema »Rückkehr« oder aber der Verbleib im Gastland zum Briefthema wurde. Nicht jede Kontaktaufnahme endete erfolgreich. Nicht selten führte sie zu unheibaren Brüchen, wenn die Diskrepanzen unüberwindbar waren (u. a. in der Schuldfrage).
Über den individuelle Befund hinaus muss jedoch festgehalten werden, dass eine Reintegration der Exilierten im Wesentlichen nicht gelang, was nicht heißt, dass sie ohne Einfluss auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft blieben. Gedacht sei hier an Adorno und Horkheimer in der BRD. Für die SBZ und spätere DDR jedoch war die Bedeutung der Remigranten, trotz mancher Widrigkeit, evident. Der Großteil der Emigranten, z. T. von Weltgeltung, ging in den Ostteil Deutschlands, z. B. Becher, Seghers, Hanns Eisler, Arnold Zweig und Brecht. Die Reise Heinrich Manns nach Ost-Berlin verhinderte der Tod.
Den literaturgeschichtlichen Schwerpunkt des Bandes stellt zweifelsohne der Briefwechsel zwischen Walter v. Molo und Thomas Mann dar. In ihm bündeln sich alle Konfliktstoffe des Exils mit besonderer Schärfe. Er löste die »Große Kontroverse« zwischen »innerer« und »äußerer« Emigration aus, die Jahre andauerte und deren Folgen noch immer zu spüren sind. Der Topos vom »Landesverrat« derjenigen, die aus Nazideutschland vertrieben, ausgebürgert und oft ums nackte Überleben kämpften, ist wohl so tot nicht. Die einst von Frank Thiess in die Welt gesetzte These gipfelte in der Behauptung, dass die Exilanten das Leben »auf den Sonnenbänken Kaliforniens« genossen hätten, ohne die »Not« des »Vaterlandes« im Blick zu haben.
Die Aussagekraft der Publikation, so verdienstvoll sie ist, wird leider dadurch geschmälert, dass mit Anna Seghers nur eine einzige kommunistische Exilantin Aufnahme fand; die Schriftstellerin kam 1947 aus Mexiko in die Ostzone und lebte in der DDR bis zu ihrem Tode.
Johannes Evelein/Primus-Heinz Kucher/Helga Schreckenberger: Erste Briefe - First Letters aus dem Exil 1945-1950. (Un)mögliche Gespräche. Edition text+kritk, München 2011. 286 S., geb., 28 €.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!