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Bejahung. Trotz der Abgründe

Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert über die Frühe, biblische Geschichten und Kinder

  • Lesedauer: 10 Min.
Christian Lehnert
Christian Lehnert

nd: Christian Lehnert, es gibt ein Gedicht von Günter Kunert, darin beschreibt er das Schicksal des Dichters: Er suche nach dem ersten, dem gültigen Wort - finde aber stets nur das zweite, schwächere.
Lehnert: Aller Anfang - das ist jetzt nicht nur dichtungsbezogen, sondern theologisch gedacht - entzieht sich uns ins Mythische, ins Metaphorische. Den Anfang haben wir nicht. Wenn wir über ihn nachdenken, oder auch über das Ende, dann treffen wir auf einen blinden Fleck.

Der Dichter hofft dennoch, das gültige Wort zu finden.
Damit begibt sich ein Gedicht, begibt sich Sprache an den Rand des Möglichen, wo sie gewissermaßen aufzuhören droht. Schreiben ist Zuflucht in der Bewegung, an diesen besagten Rand vorzudringen - und nach dem zu greifen, was man nicht fassen kann.

Was verbindet den Pfarrer mit dem Dichter?
In meiner Religiosität habe ich es ebenfalls mit Metaphern zu tun, mit Bildern, die für etwas stehen, was nicht im Wortsinn existent ist, und doch da, und erfahren wird. Ein Paradox. Die biblischen Geschichten sind stets auch der Ausdruck für den Versuch, einer Erwartung oder einem Vermissen Gestalt zu geben.

Botho Strauß: Als die Menschen noch vor verschlossenen Toren standen, schauten sie weit sehender auf als im Zeitalter der Aufklärung, da alle Tore ins Durchleuchten aufgerissen wurden.
Was mich traurig macht … Es fehlt uns die Lust an der Hinwendung zu Momenten, die sich uns entziehen, die wir nicht einordnen können, die gewissermaßen gnadenhaft sind.

Das Göttliche?
Wie immer das einer nennen mag - das steht auf einem anderen Blatt. Ich meine den Sinn für das, was sich nicht sofort in gängige Denkstrukturen einpassen lässt. Unsere Kultur ist ermüdet. Wir haben ein Problem mit Erwartungen, die unseren Rationalismus übersteigen. Wir haben das Verhältnis zur nebligen Frühe verloren, alle Zeichen stehen statt dessen auf Spätzeit.

Eine böse Lage?
Es ist der Alterungsprozess, den alle Kulturen durchleben.

Was tröstet? Die Dichter der trotzigen Helle oder die Poeten des Dunklen, der Abgründe?
Schwer zu sagen. Es gibt eine Form von Trostlosigkeit, die doch einen tiefen Trost birgt - weil sie derart radikal ungeschützt in den Abgrund schaut, dass da etwas zurückleuchtet, was noch tiefer als der Abgrund liegt. Als gebe es einen zweiten hellen Himmel unter allen Höllen. Es gibt Hoffnung letztendlich nur auf Wegen durchs Dunkle hindurch. Daran vorbei führen nur Illusion und Selbstlüge.

Was ist das, Hoffnung?
Nicht der Glaube daran, dass alles, wann auch immer, gut wird. Sondern der Glaube, dass Gutes, Friedliches Sinn hat, obwohl der Ausgang der Mühen ungewiss ist.

Herr Lehnert, macht christliche Erziehung unfähig, sich erfolgreich zu behaupten im kalten Wind der Welt.
Christlich zu sein, erleichtert das Dasein kaum. Das Christentum bietet keine Antworten auf Lebensfragen, es sei denn, man bezieht aus ihm fundamentalistische oder ideologische Impulse. Das Christentum weist vor allem in eine radikale Offenheit, es hat selbst die Struktur einer Frage. Christlich zu sein, befördert Abstände zur Welt. Der Mensch, der ehrlich zu sich selbst ist, er erkennt und anerkennt sich als Zerrissenen. Er will Gemeinschaft und erkennt in ihr zugleich seine Gefährdung.

Wurden Sie christlich erzogen?
Nein. Mein Vater war Krankenhauschef. Er hatte in der DDR eine verpflichtende soziale Stellung. Das hatte Konsequenzen. Ich wurde erzogen zur Klugheit der Schlange: Sie weiß sich zu winden. Ich beherrschte die verschiedenen Sprachen in den verschiedenen Welten, aus denen die DDR bestand. Ich hatte in Staatsbürgerkunde eine »Eins«. Ich konnte in der dort geforderten Äußerungsform krampflos agieren. Wenn man sich in die populär-marxistischen Dinge hineindachte, brauchte man doch nur ganz simplen Begrifflichkeiten zu folgen - und dem prüfenden Staat glänzten die Augen. Aber diese Welt der Codeworte zu beherrschen, es immunisierte zugleich gegen die Verführung, das alles ernst zu nehmen.

So betrieben die Ideenverwalter den Rufmord an der Idee.
Ich begriff früh die Fadenscheinigkeit von hohl klingenden Wahrheitsbehauptungen. Es ist für mich undenkbar, innergeschichtlich eine irgendwie geartete Erlösung zu denken.

Könnten Sie einem Atheisten Gott erklären?
Warum sollte ich es tun? Wenn der Atheist wirklich nach Gott fragt, dann beinhaltet die Frage schon die Antwort. Und wenn er mich nur provozieren will, sind Erklärungsversuche nicht am Platz.

Wie kamen Sie zur Theologie?
Mein Traumberuf war Mikrobiologe. Ich hatte Kontakte zu kirchlichen Gruppen, aber weniger aus theologischen Gründen, nein, dort wurde einfach anders gedacht und gesprochen. 1986 wurde ich gemustert, und da beschloss ich, den Wehrdienst zu verweigern. Solidarnosz, die Mauer, das Denken an Prag '68 - ich war in eine geistige, emotionale Krise geraten, die mir nur eines erlaubte: Bausoldat zu werden. Und in dem Moment war klar, mein Traum-Studium würde nicht stattfinden. Also studierte ich ab September 1989 Theologie. Alte Sprachen, hebräisch, griechisch, dann Philosophie, ich las Heidegger - für mich eine Offenbarung. Das Studium bekam plötzlich eine Dynamik, die mich nicht mehr losließ.

Die Bausoldatenzeit - Prora, Merseburg - haben Sie auch in Gedichten verarbeitet. Ein Trauma.
Trauma klingt eitel.

Trauma bleibt Trauma.
Ich habe lange gebraucht, um darüber schreiben zu können. Ich träume nach wie vor davon.

Wovon?
Ich werde eingezogen, muss in die Kaserne, komme nicht mehr nach Hause. Und ich versuche im Traum vergeblich, das Ganze meinen Kindern zu erklären. Es war insofern traumatisch, als ich schutzlos ausgeliefert war. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hielt bis dahin die DDR für eine kalkulierbare Gesellschaftsordnung. Bei den Bausoldaten aber empfand ich eine erschreckende Menschenverachtung, ein Oberbefehlshabertum, das einem mit allen Mitteln zeigte, was für ein Würmchen man doch ist. Das ist das Schlimmste: dass ein Mensch das Gefühl bekommt, ein Nichts zu sein.

Bitter, das ausgerechnet im Sozialismus spüren zu müssen.
Ich habe in den letzten Wochen meines Wehrdienstes, im Februar 1989, in einem Stahllager gearbeitet. Da lagen große Rohre, die mussten wir an Kräne hängen. Früh halb sechs schrieb ich mit dem Handschuh auf ein schneebedecktes Rohr: Keine Macht für niemand. »Ton Steine Scherben.« Eine halbe Stunde später wäre das weggetaut gewesen. Aber ein Kranfahrer verpfiff mich. Polizei, Blaulicht, drei Wochen Verhöre. Hunderte Male aufschreiben, was ich in jenem Moment gedacht hatte. Dann plötzlich Transport mit einem Lkw, von Merseburg aus eine stundenlange Fahrt. Bis Strausberg, was ich zunächst nicht wusste. Es ging hinab, unter die Erde. Du sitzt allein auf der Ladefläche vom Laster und denkst das Schlimmstmögliche. In Strausberg dann in eine gewöhnliche Zelle, später in eine Dunkelzelle, in der ich nicht aufrecht stehen konnte. Ich wusste nicht, wie lange. Die rissen dich aus Zeit und Raum. Dann unterhielt sich ein hoher Offizier mit mir und - stellte mir einen Urlaubsschein aus. Skurriler, böser, teuflischer geht es nicht.

Ein Kurzporträt der Willkür - die noch dort, wo sie willkürlich mild ist, ein Grauen auslöst?
Man lebte im Bewusstsein, die können alles mit dir machen, es kümmert sich keine Sau um dich.

Welches Verhältnis hatten Sie am Ende zur DDR?
Als die Mauer fiel, hatte ich immer noch Träume im Kopf von einem reformierbaren Sozialismus. Das überrascht mich heute, aus dem Abstand heraus.

Wegen Ihrer Erfahrungen, etwa bei der Armee?
Ja. Aber es war undenkbar, einfach zu sagen: Weg! Mein Bild von der DDR war also nach der Wende positiver, als es heute ist.

Wie ist es?
Heute sehe ich die DDR als Softvariante einer politischen Struktur, deren Konsequenz der Stalinismus war. Diese Logik macht letztlich unversöhnlich.

Und die Utopie?
Ich werde lieber von pragmatischen Politikern regiert als von Träumern. Ich bin skeptisch, wenn zu viel Ideenpolitik gemacht wird.

Die wirklich existenziellen Fragen - sind es politische Fragen?
Diese Fragen haben politische Konsequenzen, aber sie sind nicht politischer Natur.

Sondern?
Das individuelle Leben wird verantwortet etwa im Gebet oder im Gedicht oder in der Musik, in der Liebe. Wenn man sie ernst nimmt, sind die kleinen Dinge des Lebens nichts Geringes - etwa das Zusammensein mit meinen Kindern.

Weltveränderung durch Anständigsein.
Durch weniger Gier, weniger Neid, weniger Egoismus. Das ist viel.

Auch wenn stets nur Wenige so denken und handeln?
Selbst wenn es nur Wenige wären: Das tut für mich erst einmal nichts zur Sache. Ich kann in allem den Abgrund vermuten, aber ich kann - um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen - auch das erste, das sozusagen vollkommene Wort erhoffen. Meine Haltung ist erst einmal grundsätzlich eine Haltung der Bejahung. Gegen alle Versuchung von Abwinken oder Ironie.

Religion hat sich nicht erledigt?
Die große Erlösung durch ein vermeintlich naturwissenschaftliches Weltbild fand jedenfalls nicht statt. Vernunft ist auch Glaube.

Und Irrglaube.
Was uns in unserer Kultur zunehmend bewusst wird, da wir den Zenit des verführerischen Vernunftglaubens überschritten haben.

Mit der Geburt jedes Kindes beginnt das große Unwissen der Welt von vorn.
Aber es gibt die Existenz des Kindes, und das weist doch über jede Trostlosigkeit hinaus, oder?

Interview: Hans-Dieter Schütt


Christian Lehnert

wurde 1969 in Dresden geboren. Er studierte Religionswissenschaft, Evangelische Theologie, Orientalistik, u.a. an der Hebräischen Universität Jerusalem. Längere Aufenthalte in Israel und Nordspanien. Als Pfarrer ist er zur Zeit Studienleiter für Theologie, Zeitgeschichte und Kultur an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Lutherstadt Wittenberg. Gedichte im Suhrkamp Verlag (»Der gefesselte Sänger«, »Der Augen Aufgang«, »Ich werde sehen, schweigen und hören«, »Auf Moränen«, jüngst: »Aufkommender Atem«). Für Hans Werner Henzes Konzertoper »Phaedra«, Uraufführung an der Staatsoper Unter den Linden, schrieb er das Libretto.

Lehnerts Gedichte sind erzählte Zeit - die im Vers aufzittert, als könne man sie tatsächlich sichtbar machen. Etwas geht da am Auge vorüber, tritt ins Blickfeld, das doch nur tief in uns aufgerufen werden kann: die Empfindung von einer weit ins Werden und Vergehen hineingespannten Existenz. Werden und Vergehen - und unbedingt wieder Werden!, so flüstern es uns die Gedichte zu. Trauer, Trost und jenes tapfere Tätigsein, das ausdauernd einen ehrlichen Alltag in sein Recht setzt, verbinden sich zur schönen, zur geheimnissicheren Melodie. Die Elegie ruht sich im Psalm der Zuneigungen von ihrer Schwermut aus.

Der Dichter im Gespräch, beim Bier und vor der Bücherwand des Büros: sächsisch sanft, jungenhaft, ein Geist ganz aus Fragen, auch da, wo er entschieden, wissend, gelöst Antwort gibt. Hier feiert ein Gemüt friedlichste Verwandtschaft: von Skepsis und Lebenslust, von Zweifel und Heiterkeit. Ahnbar die Spannung, die wohl jeden Dichter plagt, der in die Geschäfte des gewöhnlichen Daseins verwickelt ist: Spannung zwischen Anforderung und Anwehung, zwischen Wirklichkeitssinn und Lust auf

Entrückung ...


Was hieß am Abend Angekommensein?
Die Hütte war ein ausgehöhlter Stein,
Basaltskulptur, sie hatte keine Frage.
Vom langen Gang war nur der Schlaf zu sehen.
Der Säugling war gefesselt. Zu verstehen
blieb nur das Datum und die Flucht der Tage
bis in den Atemstillstand, Golgatha.
Der Heimweg war von Anfang an so nah.
Christian Lehnert, 24. Dezember 2009

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