Egal aus welchen Gründen? Nicht egal!

»Unsere Kinder« - das Berliner Kino Babylon zeigt einen Film über Neonazis in der DDR

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 8 Min.

Es ist nicht möglich, diesen Film heute zu sehen, ohne an Beate Z., Uwe M. und Uwe B. zu denken. Seine Protagonisten heißen anders, aber sie gehören der gleichen Generation an wie die drei mutmaßlichen Gründer der rechtsradikalen Terrorzelle NSU. Und sie wuchsen auf im selben Land wie jene: in der DDR.

Regisseur Roland Steiner begab sich mit seinem DEFA-Team zu einer Zeit in den »nationalsozialistischen Untergrund«, da der Begriff noch nicht verbunden war mit der Blutspur des Zwickauer bzw. Jenenser Trios und seiner Helfer. Der Dokumentarfilm »Unsere Kinder« entstand zwischen 1986 und 1989 in Berlin, Hauptstadt der DDR.

Im Oktober 1987 war hier etwas geschehen, das unerklärt blieb, vielleicht unerklärlich bleiben musste: Ein u.a. von Punks besuchtes Konzert in der Zionskirche war von einer Horde junger Männer in martialischen Outfits brutal überfallen worden. Der Vorfall wird im Film nicht ausdrücklich erwähnt. Es war, so scheint es, nur einer von vielen.

Die nüchtern traurige, bedächtige Stimme, die sich zu Beginn aus dem Off an die Zuschauer wendet, während die Kamera im Dämmer eine Pflastersteinstraße in Prenzlauer Berg entlangfährt, gehört dem Regisseur: »Zuerst war es nur ein Gerücht. Aber das Gerücht verbreitet sich schneller als eine Nachricht. Manchmal ist das Gerücht glaubwürdiger als die Nachricht, denn die bestätigt nur, was alle schon wussten: Skinheads, Neonazis rasen durch unsere Stadt.«

Wo die Menschen den offiziellen Nachrichten misstrauen, schafft die Wahrheit sich im Gerücht ihren Raum. Steiner wollte es dabei nicht belassen; er spürte den Gerüchten nach - und schuf so selber Nachrichten, die sich von denen im ND, in der »Jungen Welt« und der »Aktuellen Kamera« unterschieden. Sein Film - ein »Plädoyer für das Zuhören, Verstehenwollen, offene Sprechen, bevor es zu spät ist« - wendet sich denen zu, von denen sich alle abwandten. Sich bis heute abwenden, wo vieles, aber nicht alles zu spät ist.

Es gelang dem Regisseur, das Vertrauen jener »Rowdys« und »Neonazis« zu gewinnen, die als angsteinflößendes Phantom durch die Gerüchte spukten und die von den Gerichten hinter Gitter gesperrt wurden. Mit Steiner sprachen diese jungen Männer, die sich selbst als »Skinheads« und »Faschos« bezeichneten, weil er nach den Menschen hinter solchen Zuschreibungen suchte. Dass ihnen jemand derart begegnet, kannten sie nicht. Was sie kannten - und nicht nur sie: zu Wort kommen auch Gruftis, »Anti-Skins« und ein Punk -, waren gegenseitiges Misstrauen, Angst und strikte Abwehr all dessen, was nicht ins Trugbild des real existierenden Sozialismus passte. Der aufrechten Frage aber, die Steiners Film zugrunde liegt, ist mit Zement nicht beizukommen. Sie lautet: »Was ist passiert?«

Begierig, diese Frage zu beantworten, sind auch Stefan Heym und Christa Wolf, die in Steiners Film auftreten. Heym erklärt, in der Gegenwart der späten Achtziger eine globale Krisensituation wiederzuerkennen, die es schon einmal gab: 1932/33. Er befürchtet, dass sie diesmal schlimmer sei, denn die aktuell diagnostizierte Krise betreffe nicht nur die Ökonomie, sondern das gesamte menschliche Leben: Wälder, Meere, Flüsse, Boden, selbst die Atmosphäre, das Klima - »Alles geht irgendwie kaputt.« Wer wolle es den Jungen verdenken, so Heym damals, dass sie die Alten verantwortlich machen für den Zustand der Welt. Die verständliche »Oppositionsstimmung« schlage aber um ins Unfruchtbare, wenn jeder positive Veränderungsvorschlag von den Autoritäten ignoriert, abgelehnt wird. Ein unausgesprochener Appell an die DDR-Führung, sich endlich »Perestroika« und »Glasnost« zu öffnen. Heute wirkt er seltsam vergeblich. Die DDR ist weg, die von Heym aufgerufene Lebens-Krise nicht. Es geht immer noch »alles kaputt«. Aber alles geht immer weiter.

Christa Wolf räsoniert nicht, zumindest nicht gleich. Sie hat sich von den Filmemachern mit zwei der berüchtigten Skinheads, mit Heiko B. und Ingo Hasselbach, zusammenbringen lassen. Sie siezt ihre Gegenüber, fragt neugierig nach, hört zu. Eine seltsame Konstellation: links am Tisch die große Intellektuelle, aufgeschlossen, da sie sich »alle Feindbilder abgewöhnt« hat; rechts im Braunhemd und mit niedergeschlagenen Augen Heiko B., der rauchend sagt, dass Gewalt immer Gegengewalt hervorrufe. Irgendwann im Laufe des Gesprächs, beiläufig und vielleicht nicht bewusst, beginnt Christa Wolf, die jungen Männer zu duzen. Jetzt sagt sie: »Man müsste doch ...« Man müsste sich doch schämen, man müsste doch trauern angesichts der Millionen Toten, die Deutsche auf ihrem Gewissen hätten. Darin, dass die Bürde dieser Scham und Trauer zu groß sei, um sie tragen zu können, erkennt sie das verhängnisvolle Anknüpfen der Jugendlichen an das, was schon ihre Großväter meinten, an den Nazis gut finden zu müssen. Ob er denn, wenn er historische Aufnahmen jener Jahre sehe, einmal versucht habe, die Perspektive der Opfer einzunehmen, fragt sie Heiko B. »Das kann ich nicht«, erwidert der.

Im Film dokumentiert ist das Plädoyer eines selbst noch recht jungen Staatsanwalts im Prozess gegen drei rechte Randalierer mit kindlich weichen Gesichtern: »Wir werden nicht zulassen, dass einzelne Jugendliche, egal aus welchen Gründen, versuchen, die gesunde, lebensfrohe, optimistische Atmosphäre [...] zu vergiften. Bei uns ist Jugendförderung, Jugendhilfe und -schutz nicht nur Gesetz, sondern gesellschaftliche Praxis.«

»Egal aus welchen Gründen«: Dem Film ist gerade dies nicht egal. »Nicht zulassen«, »gesellschaftliche Praxis«: Man sieht im letzten Bild, wie die Jugendlichen, getroffen von der »vollen Härte des Gesetzes«, abgeführt werden. Urteil: drei Jahre, sechs Monate Gefängnis. Ohne Bewährung, da es sich um einschlägig Vorbestrafte handelt.

Roland Steiner liest zu den Bildern eines solchen Prozesses einen Brief des Angeklagten Frank L. an dessen Mutter vor: »Ich bin total kaputt. Herr im Himmel, warum das alles? Ich fühle mich so allein wie ein klitzekleines Kind, hilflos, allein, und um mich herum heulen Wölfe. Warum? Weil ich anders sein wollte und nichts mit diesen ewigen Lügen, dem Neid zu tun haben wollte, weil ich nur Verachtung für diese Heuchelei übrig hatte. Aber wir sind nicht die, als die man uns beschimpft. Ich bin ein Mensch, kein Wolf.«

Diese verzweifelten Worte zu hören, während man in das regungslos traurige, sensible Gesicht des brutalen Jungen sieht, geht unter die Haut.

Wir wissen heute, was damals keiner wissen konnte: Frank L., im Zuge der Wende vorzeitig aus der Haft entlassen, sollte in den frühen Neunzigern erneut, und weiter radikalisiert, als Neonazi in Erscheinung treten. Der Deckel, den die Staatsorgane auf den brodelnden Kessel gedrückt hatten, der die späte DDR war, hatte dem Druck nicht standgehalten. Einmal in die neue Freiheit entwichen, zog sich der braune Anteil dieses Dampfes zu Gewitterwolken zusammen, die sich in den folgenden Jahren gewaltsam entluden - wie gewaltsam, ist vielen erst bewusst geworden, seit im Herbst 2011 die Terrorzelle aufflog, die sich selbst den Namen »Nationalsozialistischer Untergrund« gegeben hatte.

Frank L., kein Wolf, ein Mensch. Aber einer, der nie erfahren hatte, was das ist: Menschlichkeit. Ab 1990, als westdeutsche und österreichische Neonazis unheilvolle Allianzen mit ihren entfesselten Gesinnungsgenossen aus der DDR eingingen, kannte auch der Hass kaum noch Grenzen.

Frank L.s Freund und »Kamerad« Ingo Hasselbach schrieb 1993 in seinem als offener Brief an den Vater adressierten Aussteiger-Buch »Die Abrechnung«: »Nach dem Fall der Mauer ging alles recht schnell. Durch die jahrelangen Inhaftierungen Einzelner und deren überraschende Freilassung konnte gewissermaßen über Nacht eine gewaltbereite rechte Szene in Ostdeutschland entstehen, die in der Lage war, völlig ungewohnte Freiräume zu nutzen. Waren vorher Rechtsradikale und Skinheads auf das schärfste bekämpft worden, so gab es nun sogar die Möglichkeit, legale Parteiarbeit zu betreiben.«

Bedingungsloses Füreinander-Einstehen, stählerne Treue, Zusammenhalt gegen die bedrohlich empfundene Außenwelt: Die Jungen im Film nennen das, was sie nicht in Familien, nicht in der Gesellschaft erfuhren, als Hauptgrund für ihren brutalen Weg, der Vereinsamung zu entkommen. Die Ideologie speist sich - nicht nur, aber doch auch - aus diesem persönlichen Defizit. Wie schwer es ist, den Absprung aus einer solchen Szene zu meistern, auch das ist Thema des Films. Denn wer Treue in Anspruch nimmt, steht nach dem Ehrenkodex der Szene auch in der Pflicht, selbst Treue zu halten. »Verrätern« droht das Schlimmste.

In einem Silly-Song der späten Achtziger besang Tamara Danz die »Verlornen Kinder in den Straßen von Berlin«. Regisseur Steiner wollte die jungen Menschen, die im Film zu Wort kommen, nicht verloren geben. Er hatte erkannt, dass deren Versagen das Versagen der Eltern- und Großelterngeneration vorausgegangen ist. Was die Filmleute aus ihren Recherchen in der rechtsradikalen und in anderen Subkulturen der späten DDR mitnahmen, formulierte Steiner so: »Aus Betroffenen wurden Beteiligte und: Wir haben in ihnen auch unsere Kinder erkannt.«

Wir: Das sind nicht nur die Eltern. Wir: Das sind wir alle. Auch der »Untergrund«, aus dem Beate Z., Uwe M., Uwe B. ihre Taten planten und verübten, ist keine ferne Hölle. Es ist der »Untergrund«, darauf unsere Häuser, Schulen, Ämter, Fabriken stehen. Man kann diesen Keller nicht zubetonieren. Man muss seine Bewohner nach oben holen - bevor es zu spät ist.

»Unsere Kinder« - Aufführungen im Kino Babylon, Berlin-Mitte: 1.1., 17.45 Uhr, 4.1., 18.15 Uhr

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