Massenprotest gegen Putin geht weiter

Forderung nach Neuwahlen / Bewegung aber sehr heterogen

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Wladimir Putin, so dessen Pressesprecher am Wochenende, habe nach wie vor »die Unterstützung der Mehrheit der Russen«. Die Regierung habe die Forderungen der Massen bei den Kundgebungen nach fairen Wahlen vernommen. Die Bürger hätten das Recht auf Meinungsäußerung, die Protestierenden seien jedoch eine Minderheit.

Am Samstag hatten Zigtausende in fast 100 Städten Russlands erneut die Wiederholung der umstrittenen Parlamentswahlen vom 4. Dezember gefordert. Allein in Moskau versammelten sich auf dem nach Friedensnobelpreisträger Sacharow benannten Prospekt nach offiziellen Angaben 30 000 Menschen, die Veranstalter sprachen von 100 000 bis 120 000. Dort waren auch erneut Forderungen nach einem Rücktritt Putins laut geworden. Dieser dürfe bei den Präsidentenwahlen am 4. März keine einzige Stimme bekommen.

»Wir werden nicht von der Straße gehen, bis unsere Forderungen erfüllt sind«, so der neoliberale Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow, der die fast vierstündige Kundgebung eröffnete. Gemeint war ein bereits vor 14 Tagen von den Protestlern formulierter Fünf-Punkte-Forderungskatalog: Neuwahlen, Lockerung der rigiden Parteien- und Wahlgesetzgebung, Absetzung von Wahlkommissionschef Wladimir Tschurow und Ermittlungen gegen Wahlfälscher.

Zwar hatte Präsident Dmitri Medwedjew in seiner Jahresbotschaft am Donnerstag tief greifende politische Reformen angekündigt und Vorlagen, mit denen die Zulassung von Parteien und die von Bewerbern für das Präsident erheblich vereinfacht werden, bereits in die Duma eingebracht. Diese und der Senat, so Medwedjews Pressesprecherin Natalja Timakowa, würden sie zügig behandeln, sie könnten schon im Frühjahr in Kraft treten.

Den Protestlern geht das nicht weit genug. Im März, wenn Putin sich für eine dritte Amtszeit bewirbt, greifen die Neuerungen noch nicht, und zur Wiederholung der Parlamentswahlen sind derzeit weder Kreml und Regierung bereit noch die in der Duma vertretenen Oppositionsparteien, die bei der Abstimmung erheblich zulegten. Doch der Druck auf Putin und Medwedjew wächst. Altpräsident Michail Gorbatschow hatte Putin noch vor dem Meeting aufgefordert, künftig auf jede Rolle in der Politik zu verzichten

Auch der Beirat des Präsidenten für Menschenrechte und Zivilgesellschaft empfahl den Rücktritt von Wahlleiter Tschurow und der Duma die Verabschiedung eines Gesetzes, das den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen frei macht. Es habe dazu Freitagabend eine mehrstündige, sehr stürmische Diskussion gegeben, sagte eine Teilnehmerin, die Bürgerrechtlerin Swetlana Gannuschkina. Mit den Protestlern solidarisierte sich auf dem Meeting sogar Ex-Finanzminister Alexei Kudrin,

Er teile »die negativen Gefühle in Bezug auf die Ergebnisse der Parlamentswahl«. Gleichzeitig bot er seine Vermittlung beim »Dialog zwischen Regierung und Gesellschaft« an, um »einen friedlichen Wandel zu ermöglichen«. Medwedjew hatte den liberalen Kudrin wegen Kritik an seiner Wirtschaftspolitik im Herbst entlassen, Putin nannte ihn zuletzt dennoch einen Freund. Beobachter schließen daher nicht aus, dass Kudrin von Putin selbst als Vermittler in die Spur geschickt wurde.

Kudrin hätte aus ihrer Sicht auch die größten Chancen, eine handlungs- und mehrheitsfähige neoliberale Partei aus dem Boden zu stampfen. Als Motor für Reformen und jemand, der gleichzeitig die heterogenen Massen strukturiert, latente Unzufriedenheit zu konkreten politischen Forderungen bündelt und die rivalisierenden Führer der einzelnen Gruppierungen zu Disziplin zwingt.

Wie tief die Gräben zwischen links, liberal oder national nach wie vor sind, führte der Protest am Samstag eindringlich vor. Ein und derselbe Redner wurde von Teilen mit Applaus, von Teilen mit Pfiffen bedacht. Hinter der basisdemokratischen Kulisse - die Teilnehmer konnten zuvor per Internet über die Rednerliste abstimmen, um das politische Kräftegleichgewicht zu wahren und der aus rund 100 Mitgliedern bestehende Koordinierungsrat vergab an die einzelnen Gruppen sogar Quoten für die Teilnahme - spitzt sich der Machtkampf zu.

Minimalisten, darunter viele Kulturschaffende und Wissenschaftler, fordern, auf Medwedjews Kompromissangebot einzugehen und die Lockerungen durch permanenten Dialog mit der Macht weiter auszubauen. Maximalisten wie Sergej Udalzow, der Chef der »Linken Front«, ergehen sich dagegen bereits in Fantasien von »alternativen Machtstrukturen«.

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