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Grausame Lücken

Kleist machte ein Ende. Nun ist auch wieder ein Kleist-Jahr zu Ende. Ein Abriss zum Nachruhm

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Irrer, ein Narr, ein »verächtlicher Tollhäusler«. Hatten sie’s nicht schon immer gewusst? Die Ärzte, die den toten Kleist untersuchten, lieferten den medizinischen Beweis und damit auch die Erklärung für die Schüsse im November 1811 am Kleinen Wannsee. Ihr Gutachten beglaubigte den »excentrischen«, den »kranken Gemüthszustand des Denati«. Nun musste niemand mehr rätseln, warum es so viel Raserei in den Stücken gibt, so viel Maßlosigkeit und Aufruhr.

Friedrich Weisser, für den die deutsche Literatur nichts als ein »verpesteter Sumpf« war, eröffnete seinen Schmähartikel in Cottas »Morgenblatt« vom 27. Dezember 1911 gleich mit dem Ruf: »Armes Deutschland! Wenn deine wahnsinnigen Schriftsteller ihre Tollheit bis zum Morde treiben, welche Nation wird der Mörder mehr zählen, als du?«

Jetzt, nach diesem dramatischen Ende, war der so lange verkannte, verlachte, missachtete, ignorierte Kleist ein Fall. Preußens König Friedrich Wilhelm III., empört, weil er einen Selbstmörder unter seinen Offizieren unmöglich dulden konnte, sprach von einer gefährlichen Tat, einem Anschlag auf die »Religiosität und Sittlichkeit im Volke«.

Eine Schrift, die die Umstände des Freitods beschreiben wollte, wurde noch vor ihrer Drucklegung verboten, und während die öffentliche »Anpreisung« des Selbstmords untersagt wurde, beeilte sich die Familie, viele Papiere des Dichters schleunigst zu vernichten. Ulrike von Kleist, die Halbschwester, hatte offenbar den ersten Zugriff auf die Hinterlassenschaft. Getilgt wurden Schreiben an die Geschwister und Verwandten. Marie von Kleist stand ihr kaum nach. Die «vertraute Freundin«, schrieb Arthur Eloesser 1911, »verschuldet in Kleists Briefen die allergrausamste Lücke.«

Verschont blieben lediglich die Schreiben des jungen Mannes an seine Mutter. Aber auch die flogen, testamentarisch verfügt von Maries Sohn Adolph, schließlich ungelesen ins Feuer. Verloren ging die »Geschichte meiner Seele«, ein Dokument, ohne das, wie Zeitgenossen berichtet haben, »Kleists ganze Schriften nur ein Fragment bleiben dürften«, und beinah wären überdies sämtliche (nicht bloß die »leidenschaftlichsten«) Schreiben an die Verlobte Wilhelmine von Zenge verbrannt worden. Ihre Schwester Louise hat das in letzter Sekunde verhindert.

Wer Heinrich von Kleist war, wollte in Deutschland kaum einer wissen, und die Deutschen haben auch noch eine ganze Weile gebraucht, bis sie es wenigstens zu ahnen begannen. Nur die Freunde, die Literaten, Arnim, Brentano, E. T. A. Hoffmann, Fouqué, Rahel Varnhagen oder Heine, vom Kleistschen Genie überzeugt, trauerten und verteidigten die verhöhnte Dichtung. Zehn Jahre vergingen, bis Ludwig Tieck, der strahlende, populäre »König der Romantik«, auch er ein Bewunderer, 1821 in Berlin »Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften« herausgab, »ein neues und herrliches Buch«, das Ferdinand Grimm sogleich seinen Brüdern Jacob und Wilhelm ans Herz legte. Großtat und denkwürdige Leistung.

In diesem Band hat Tieck zum ersten Mal »zwei Schauspiele« veröffentlicht, »die mich entzückt haben«: »Die Hermannschlacht« und »Prinz Friedrich von Homburg«, »vaterländisch und groß«. »Tieck«, berichtete Eduard von Bülow, »hat übrigens das große noch nicht anerkannte Verdienst, daß er den Prinzen von Homburg vor wahrscheinlicher Vernichtung oder Vergessenheit rettete. Er wußte sich das Manuscript, welches da wo es sich befand gering geschätzt wurde, im Jahre 1814 zu verschaffen, las es oft in seinen Kreisen vor, gewann ihm so Freunde und ließ es endlich sogar drukken.«

Ludwig Tieck gab sich mit dieser bahnbrechenden Ausgabe noch nicht zufrieden. Er sorgte dafür, dass der »Homburg«, von ihm in der Abendzeitung der Stadt rühmend eingeführt, am 6. Dezember 1821 am Dresdner Hoftheater auch auf die Bühne kam. 1826 veröffentlichte er Kleists »Gesammelte Schriften« in drei Bänden, die erste Werkvorstellung überhaupt, und 1846 noch einmal »Ausgewählte Schriften«. Zwei Jahre später kam auch, verfasst von seinem Freund und Mitarbeiter Eduard von Bülow, die erste Kleist-Biografie heraus.

Trotzdem blieb Kleist im 19. Jahrhundert ein Mann, den man kaum kannte. 1876 feierte man hier und da seinen hundertsten Geburtstag, weil man sich immer noch auf Tiecks Annahme stützte, er sei 1776 und nicht 1777 geboren. Erst jetzt kam der Garnisonküster in Frankfurt/Oder auf die Idee, mal im Kirchenbuch nachzusehen. Aber noch am 21. November 1900 pilgerte der Schriftsteller und Kritiker Julius Bab zum Grab und sah, dass er der einzige war. »Hier war kein Mensch gestanden«, schrieb er in einem Gedicht. »Und keine Blume lag auf diesem Stein.«

Erst das Zentenarium, elf Jahre später, brachte die Wende. Nun forderte Herbert Eulenberg sogar einen nationalen Gedenktag mit schwarz ausgeschlagenen Kirchen, gesenkten Fahnen und Ehrensalven, an dem die Arbeit eine Stunde ruhen sollte. Zeitungen in Berlin, München und Wien druckten Sonderausgaben, und plötzlich schaffte es sogar die »Penthesilea«, lange als Ausgeburt eines kranken Geistes betrachtet, auf die Bühne, das Schauspiel, von dem man geglaubt hatte, es tauge nicht für eine Inszenierung.

Die Favoriten aber unter den Kleist-Werken, geadelt vom säbelrasselnden Geist der Zeit, waren »Die Hermannsschlacht«, die Ode »Germania an ihre Kinder« und das »Lieblingsstück« Wilhelm II., der »Prinz von Homburg«, der freilich mehr oder weniger stark bearbeitet werden musste und dessen Aufführungen mit »lebenden Bildern« endeten, die Preußens Glanz und Gloria symbolisieren sollten.

Zwei Lager reklamierten Kleist für sich, auf der einen die nationalistisch gesinnten Kreise, auf der anderen die jungen Dichter und Künstler, die Vertreter der Moderne, energisch und leidenschaftlich vor allem die Expressionisten, die sich in ihm, so sensibel, zerrissen und unverstanden wie er, wiederfanden. Sie nahmen ihn in ihre Mitte, er wurde, gefeiert in Gedichten, Prosatexten und Essays, der Bruder, auf den sie sich berufen konnten. Künstler, Schriftsteller und Theaterleute, sorgten schließlich auch für die Stiftung eines Kleist-Preises, der, »ringenden Talenten« zugedacht, zwischen 1912 und 1932 die angesehenste literarische Auszeichnung wurde.

Hundert Jahre nach Kleists Tod schloss ihn auch die endlich versöhnte Familie in die Arme. Am 21. November 1911 legte sie zum ersten Mal einen Kranz auf sein Grab.

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