Der Inbegriff der Freiheit?
Reflexionen einer selbstständigen Gewerkschaftslinken
Eines Nachmittags im Coworking-Space. »Mist, schon wieder kein Netz!« Paul klappte verärgert sein Laptop zu. Martina am Tisch nebenan nickte zustimmend. »Im Café um die Ecke ist das Wifi viel stabiler.« »Ja, der Cappuccino aber viel teurer«, warf Paul ein. Robert ging ihr Genörgel auf den Keks: »Warum kommt ihr beiden eigentlich ständig hierhin, wenn es euch nicht gefällt? Ihr habt doch bestimmt ein Homeoffice?« »Ja klar, sogar ein perfekt eingerichtetes«, gab Paul kleinlaut zu, »aber die Fenster müssten mal wieder geputzt werden.« Martina lachte auf: »Bei mir muss die Wäsche gebügelt werden«.
Kein Wecker, sondern Selbstbestimmung
Auch Robert kannte zu gut die Ersatzbefriedigung einer ungeahnt sauberen Wohnung. Laut sagte er jedoch: »Nett mal zu plaudern. Aber wenn ich jetzt nicht endlich anfange, schaff ich es bis zum Abgabetermin nie.« »Ich bewundere deine Eigendisziplin.« In Pauls Stimme klang Neid. »Quatsch. Ich hab Angst vor Hartz IV und brauche den Folgeauftrag.«
»Wie kommst Du denn voran?«, fragte in dem Moment Claudia. Sie sitzt eigentlich weiter weg, nutzt aber den Weg zur Kaffeeküche für einen Blick auf Roberts Laptop. Er klappte es schnell zu. »Wie bist du denn drauf?«, staunte Paul. »Sie ist schon lange scharf auf mein Projekt«, erklärte Robert verärgert.
Martina hatte längst abgeschaltet und schaute aus dem Fenster. »Regen, schon wieder Regen«, dachte sie. »Ein Tag zum im Bett bleiben. Oh Gott, wie toll hatte ich mir das vorgestellt, das mit der Selbstständigkeit! Kein Wecker, keine Fremdbestimmung und nie wieder schleimen oder arbeiten mit Kotzbrocken. Der Inbegriff der Freiheit! Ausschlafen, den ganzen Tag im Schlampenlook.«
Doch sie wurde aus den Gedanken gerissen, als die Eingangstür aufging und Manuela laut in alle Richtungen grüßte. Martina grüßte erfreut zurück, doch einige andere rümpften ob der Störung die Nase.
Manuela plumpste auf den Stuhl neben Martina und nah an Paul. Dieser nutzte die Gelegenheit, der Soziologin seinen Textentwurf zum Gegenlesen zu geben: »… Vor der Entdeckung der unbezahlten Kreativität durch die Lean Production suchten linke Industriesoziologen die Mühlen der entfremdeten Fabrik und Büroarbeit durch Humanisierung der Arbeit zu mildern. Dazu gehörte autonome Gruppenarbeit und Aufhebung der Arbeitsteilung. Wer diese als Selbstständiger ausreichend genossen hat, singt (meist insgeheim) das Hohelied der Arbeitsteilung. Aber: Als Selbstausbeuter ist niemand so billig wie ich…«
Nehmen, was man kriegen kann
An dieser Stelle unterbrach Manuela die Lektüre. »Es ist, als ob Du mir über die Schulter geschaut hättest, als ich heute die kaputten Umlaute aus dem Text entfernen musste, 40 Seiten lang!«, sagte sie zu Paul. Und: »Apropos so billig wie ich« - und an dieser Stelle lauter: »Hört mal Leute, die, die auch schreiben: Ich hab das Angebot, eine Glosse zu schreiben, 47 Cent pro Zeile! Soll ich das machen? Die dju empfiehlt mindestens 60 Cent.« Sie schaute fragend in die Runde. Sprachloses Erstaunen. Nie, noch nie hat jemand seine Honorare verraten! Claudia hatte als Erste die Sprache gefunden: »Spinnst Du? Gewerkschaft war gestern. Nimm, was du kriegen kannst! Und jetzt lass mich in Ruhe weitermachen.« Kopfschüttelnd widmete sie sich wieder ihrem Laptop.
»Typisch«, dachte Manuela, »ich kenne gefühlte Tausend selbstständige Journalisten und Webdesigner allein in Berlin - alle links, alle nach Feierabend politisch aktiv, alle träumen von der Revolution - aber dem gegenseitigen Unterbietungswettbewerb ein Schnippchen schlagen? Oh nein, das wäre ja wirklich eine ›freie Produktion in den Händen der assoziierten Individuen‹…«
Die Industriesoziologin Mag Wompel ist freiberufliche Redakteurin bei labournet.de, der Internetplattform für gewerkschaftliche Linke. In ihrem nebenstehenden Beitrag reflektiert sie in einer beruflichen Szene das Arbeitsleben Selbstständiger.
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