Der Skandal als Routine
Verbal hat Agrarministerin Ilse Aigner 2011 kräftig ausgeteilt - die Praxis fiel etwas leiser aus
Der Lebensmittelskandal um die »Antibiotika-Hähnchen« - es hatten sich fast flächendeckend »multiresistente« Keime nachweisen lassen - konnte vom Umweltverband BUND pünktlich zur Agrarschau »Grüne Woche« aufgebracht werden. Seit Jahren ist nämlich bekannt, dass in deutschen Großstallungen offenbar in großem Stil »präventiv« Antibiotika eingesetzt werden, obwohl das verboten ist. Es hatte sozusagen nur mal jemand genauer nachschauen müssen.
Noch prompter als der neuerliche Skandal kam nur das Gegengift aus dem Landwirtschafts- und Verbraucherministerium von Ilse Aigner (CSU). Schon einen Tag nach der BUND-Untersuchung präsentierte sie einen Gesetzentwurf: Demnach soll, was verboten ist, nun in kleinen Schritten eingeschränkt werden: Die Behörden der Länder sollen mehr Wissen bekommen über die Antibiotika-Abgabemengen, Tierärzte sollen auf Verlangen ihre diesbezüglichen Daten auf Verlangen offenlegen müssen, Ärzte sollen beim Verabreichen der Mittel auf die empfohlenen Mengen verpflichtet werden - und die Möglichkeiten, Antibiotika für Menschen zum Einsatz am Tier »umwidmen« zu lassen, sollen eingeschränkt werden. Wie so oft in diesen Dingen fragt sich der Laie vor allem, warum das nicht schon längst so ist.
Die schnelle Reaktion wirkt löblich, doch war das Gesetz schon in Bearbeitung. Ob es das Problem lösen kann, darf bezweifelt werden: Frankreich, Dänemark und die Niederlande haben den Antibiotikaeinsatz bereits ganz verboten. Und die Hähnchen sind auch nur ein weiterer »Fall für Ilse«. Schon 2011 begann mit einem Paukenschlag: Dioxin war in Tierfutter gelangt, weil ein Hersteller zu technischen Fetten gegriffen hatte. 5000 Höfe wurden gesperrt, Hunderttausende Eier vernichtet, kämpferisch sagte die Ministerin: »Dieser Skandal wird Konsequenzen haben. Darauf können Sie sich verlassen.« Vieles werde »noch in diesem Jahr geschehen«.
Doch der famose »14-Punkte-Plan«, der im Kabinett gegenüber Aigners ursprünglichen zehn Punkten offenbar spontan noch aufgestockt worden war, klang am Ende nicht gerade drakonisch: Die Produktion von Tierfetten und technischen Fetten ist zu trennen - vorher war das nämlich nicht so. Eine »Positivliste« von erlaubten Stoffen wurde beschlossen, eine Dioxindatenbank und eine Versicherungspflicht für Futtermittelhersteller. Die Kontrollen blieben bei den Ländern.
Dass der weitere »Kampf gegen die Futtermittelmafia« (»Bild«) dann etwas aus dem Blick geriet, lag am nächsten Lebensmittelskandal: Mit EHEC-Erregern verseuchte Sprossen, die laut Bundesinstitut für Risikobewertung den größten derartigen Ausbruch überhaupt in Deutschland auslösten; es gab Todesopfer. Zunächst wurde auf Verdacht eine halbe spanische Gurkenernte vernichtet, dann erwiesen sich ägyptische Bockshornkleesamen als das Problem. Aigners Ankündigung folgte prompt: »Ich habe die Länderbehörden gebeten, bundesweit schwerpunktmäßig Produzenten und Importeure von Sprossen und deren Produkte zu überprüfen.« Problem gelöst.
Kaum etwas, schrieb jüngst das gewiss nicht superkritische Nachrichtenmagazin »Focus« über die Hähnchen, ist so sicher wie der nächste Lebensmittelskandal. Im Grunde ist klar, was geändert werden muss: Solange die politischen Marktbedingungen die Ställe immer größer, die Produktion immer arbeitsteiliger und den Kostendruck immer größer machen, sind solche Grenzüberschreitungen programmiert. Daran will und kann die Ministerin nichts ändern. Das wäre ein Fall für Angela Merkel.
Ilse Aigner aber denkt mittelfristig. Sie weiß zumindest eins: Wenig regt die Deutschen kurzzeitig so sehr auf wie ein Lebensmittelskandal - und kaum etwas vergessen sie dann schneller. Wer erinnert sich schon noch an das Uran im Trinkwasser oder die Acrylamid-Pommes? Das war alles in den letzten zehn Jahren, noch nach BSE.
Und auf der anderen Seite sieht Aigner die mächtige Nahrungsindustrie, immerhin die Branche Nummer vier in Deutschland: 160 Milliarden Jahresumsatz, fast ein Drittel davon im Ausland. Bisher ist die Ministerin mit ihrer Abwägung ganz gut gefahren.
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