Wunde Deutschland
Zum Auftakt des Hermann-Hesse-Jahres 2012
Das letzte Mal in seinem Leben betritt Hermann Hesse 1936 deutschen Boden und auch das nur zu einem Kurzbesuch bei einem Augenarzt in Bad Eilsen, bei dem er sich - vergeblich - Linderung seiner unerträglichen Augenschmerzen verspricht. Dort trifft er das erste Mal seinen Verleger Peter Suhrkamp, der den »arisierten« Fischer Verlag - auf Bitten der emigrierten Familie Fischer - übernommen hatte, damit er nicht in die Hände der Nazis fiele. Eine schwierige Position für Verleger und Autor, denn ein Teil des Verlages emigriert mit dem Schwiegersohn des 1934 gestorbenen Samuel Fischer, dem Arzt Gottfried Bermann-Fischer. Hesse schwankt. Die Briefe dieser Zeit zeigen, dass er entschlossen ist, dem Verlag in die Emigration zu folgen. Bermann-Fischer - das ist mit den Nazi-Behörden ausgehandelt worden - darf einen Teil der Rechte an Büchern von ohnehin missliebigen Autoren mit ins Ausland nehmen, doch nicht von denen Hermann Hesses.
Dieser fühlt sich wie in einer Falle. Einerseits will er seine Leser in Deutschland nicht verlieren, andererseits nicht den Nazis als Alibi dienen. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu: Die Schweiz hat zur Wahrung ihrer Neutralität jede Form von Antifaschismus unter Strafe gestellt; zudem kommen immer wieder Mord- und Entführungskommandos der Gestapo über die Grenze. Seit 1924 wieder eidgenössischer Staatsbürger, fühlt Hesse sich in der Schweiz, in der er insgesamt sechzig Jahre seines Lebens wohnen wird, keineswegs sicher. Thomas Mann zieht weiter in die USA.
Dennoch nimmt Hesse 1933 viele Flüchtlinge aus Deutschland bei sich auf - auch Peter Weiss lebt eine zeitlang bei ihm, der Leipziger Musikkritiker und Kommunist Heinrich Wiegand macht auf seiner Flucht in Montagnola Station und viele andere auch. Den Nazis konnten Texte wie »Unterm Rad« oder »Steppenwolf« nicht gefallen, dennoch erschienen Hesse-Bücher in einer Auflage von fast einer halben Million zwischen 1933 und 1945 in Nazi-Deutschland (von den Honoraren allerdings ist nur ein winziger Teil transferierbar). Erst mit der Verweigerung der Druckerlaubnis für das »Glasperlenspiel« wird Hermann Hesse in Nazi-Deutschland endgültig zum verbotenen Autor. 1943 erscheint der Band bei Fretz & Wasmuth in Zürich.
Auch nach dem Krieg kam der Nobelpreisträger von 1946 nicht in das Land, in dem er geboren wurde, dessen schwäbischer Pietismus ihn in Calw und Maulbronn so geprägt hatte, in dem seine Verlage - seit 1903 der S. Fischer Verlang, dann seit 1950 der Suhrkamp Verlag - waren, das Land, in dem seine beiden Schwestern lebten und seine Eltern starben.
Weder bei der Verleihung des Goethe Preises der Stadt Frankfurt (Main) 1946 war er anwesend, noch beim Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1955. Es gab Krankheitsgründe, gewiss, doch Hesse, der dem deutschen Kaiserreich ebenso wie der Weimarer Republik misstraut hatte - das Nazi-Reich hasste er ohnehin - , stand auch der demokratischen Erneuerung in BRD und DDR skeptisch gegenüber. Er sah den fatalen Hang der Deutschen zum Nationalismus als Grundübel, das zu zwei Weltkriegen geführt hatte und glaubte nicht an einen wirklichen Bruch mit dieser fatalen Linie in der deutschen Geschichte. Im Sommer 1914 (da lebte er schon in der Schweiz) hatte er sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet, war aber wegen seiner Augenkrankheit nicht eingezogen worden und arbeitete darum bei der deutschen Gesandtschaft in Bern für die Kriegsgefangenenfürsorge. Bereits im Herbst 1914 schrieb er einen Text, der ihn zum Feindbild der deutschen Kriegspresse machte: »O Freunde, nicht diese Töne«. Das war kein pazifistischer Aufruf, nein, aber warum im Krieg alle zivilen Normen, jeden gemeinsamen Geist in Europa zerstören?
Hesse war mit dem Pietismus der Eltern aufgewachsen, von dem er sich früh energisch befreit hatte, er kannte den Irrglauben, sich moralisch auserwählt zu fühlen. Diese sektenhafte Hybris, die glaubt, in Fragen von Gut und Böse sicherer zu urteilen als andere Menschen, sah er auch bei den Kommunisten. Bei denen mündete sie in einem weltanschaulichen Militarismus, der ihm zuwider war, weil er jeden Geist zerstört. Und dennoch, in den über 30 000 Briefen, die sich von ihm erhalten haben, zeigt sich immer wieder sein nicht nachlassendes Bemühen, mit dem Einzelnen menschlich nicht zu brechen, trotz aller grundsätzlichen Kritik am Opportunismus, an eilfertigem Sich-Andienen bei der jeweils herrschenden Macht, teils aus Mangel an Mut, teils aus Fanatismus oder Karrierismus. Hesse bemüht sich um jeden Einzelnen, nicht selten im Wissen um dessen schuldhafte Vergangenheit.
So spricht er die Deutschen als Einzelne an, appelliert im Sommer 1945 in seinem »Rigi-Tagebuch«: »Versäumt nicht wieder das wenige Gute, was der Zusammenbruch euch anbietet! Damals, im Jahr 1918, konntet ihr eine Republik statt einer Monarchie haben. Und jetzt könnt ihr, mitten im Elend, wieder etwas haben und erleben, ein neues Stück Entfaltung und Menschwerdung, das ihr vor den Siegern und den Neutralen voraus habt: ihr könnt den Wahn jedes Nationalismus, den ihr im Grunde längst schon haßt, durchschauen und euch von ihm befreien.«
Was heute selbstverständlich klingt, löst damals einen Sturm der Empörung aus. Ricarda Huch fragt in einem offenen Brief: »Ist es möglich, daß ein Deutscher, ein deutscher Dichter, seinen Landsleuten ihr Nationalgefühl zum Vorwurf machen sollte? Während alle Nationen ringsum ihr Nationalbewußtsein stolz zur Schau tragen, sollte Deutschland sich seiner entäußern?« Und Heinrich Dietze klagt ihn in der sowjetamtlichen »Neuen Rundschau« des Verrats am Deutschtum an: »Hermann Hesse, der den Krieg und seine Nachwirkungen nur aus der Perspektive der Ruhe und Geborgenheit kennt, hat unser Deutschland beleidigt. Das ist beschämend. ... Sie, sehr verehrte Frau Ricarda Huch, haben sich schützend wie eine Mutter vor unser Deutschland gestellt, nun sind Sie für mich die ›Mutter der Deutschen‹ geworden.« Der Virus des Nationalismus erweist sich als hartnäckig - das erfährt Hesse immer wieder. Nein, dieses Deutschland mag er nicht mehr betreten.
Einige alte Freunde in Deutschland wurden nach 1933 zu Mittätern. Doch Hesse ist bereit, auch diesen Brücken zu bauen. Das erstaunt gerade in Zeiten medial forcierter Schuldzuweisungen. Seine heute altmodisch wirkende Tugend führt mitten hinein ins »Glasperlenspiel«, immerhin auf dem Höhepunkt der Macht der Nazis geschrieben: Wie verhält sich der Künstler vor der Macht? Gibt es schützende Reservate für den Geist?
Was folgt daraus für den späteren Umgang mit den Werken der Mitschuldigen? Entschuldigt die Qualität der Dichtung die Beihilfe zum Staatsverbrechen? Nein. Gehören solche Werke also, statt weiterhin verbreitet zu werden, in den Mülleimer? Das wäre selbst ein blindwütiger Akt der Vernichtung.
Immer vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich um Kunst und nicht um Machwerke - so auch bei Ezra Pound, Benn oder Marinetti. Wir stehen vor einem Widerspruch, der nicht abstrakt lösbar scheint. Es kommt darauf an, dem jeweils Einzelnen in seiner schuldhaften Verstrickung dennoch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Arno Breker etwa, ursprünglich von der französischen Moderne beeinflusst, ließ sich zum Staatskünstler der Nazis machen; seine gigantomanischen Germanenstandbilder kann man durchaus als Zeugnis des Verrats der eigenen Kunstauffassung ansehen. Und doch schreibt Hesses Verleger Peter Suhrkamp, dass er Anfang 1945 im KZ Sachsenhausen von der SS nicht ermordet wurde, habe er dem mutigen Einsatz von Arno Breker zu verdanken.
Hermann Hesse hörte bis zu seinem Lebensende nicht auf, neben der Ideologie des Nationalismus auch vor der des Klassenkampfes zu warnen. Seinem Sohn Heiner, zeitweise ein parteimäßig organisierter Kommunist, der auch ihn zum aktiven Kampf auffordert, entgegnet er, er solle bedenken, dass er dann nicht nur bereit sein müsse, sich für seine Überzeugung töten zu lassen, sondern auch selber zu töten. Daher die berühmten Gedichtzeilen, in denen es heißt, es sei besser, von den Nazis erschlagen zu werden als selber Nazi zu sein - und besser, von den Kommunisten erschlagen zu werden, als selber Kommunist zu sein.
Unter denen, die in die Falle der Ideologie-Verführung gingen, war auch sein Jugendfreund aus Bodenseetagen Ludwig Finckh, der, ebenso wie Ina Seidel, Hitler verherrlicht hatte. Nach 1945 wandte sich Finckh dennoch dreist an ihn, mit der Bitte um Hilfe bei seiner Entnazifizierung. Die Antwort von Hesse zeigt, dass er den Kontakt zu Finckh nie abbrach, den Menschen nicht aufgeben wollte, dessen Verhalten er trotzdem nicht aufhörte zu kritisieren.
Hesses menschliche Größe zeigt sich darin, sich nicht besser zu wähnen als die von ihm Kritisierten. Wenn er jemanden jedoch seine Rolle weiterspielen sieht, die er schon unter den Nazis spielte, dann zeigt er sich unversöhnlich, so im Falle von Friedrich Sieburg, der Ende der 50er Jahre Juror beim neu vergebenen Hermann-Hesse-Preis geworden war. Das erträgt Hesse nicht, er sorgt für einen anderen Juror.
Doch das sind Ausnahmen. Hesse will Menschen nicht einfach ausstreichen, weiß, dass eine solche gänzliche Aburteilungsgeste der Grund aller sich fortzeugenden Menschenverachtung wäre. Und so antwortet er Ende Mai 1947 Ina Seidel, die ihm für das »Glasperlenspiel« gedankt hatte, einige ihrer Bücher seien ihm immer nah geblieben: »Diese Liebe wird durch nichts gekränkt, und was das Politische betrifft, so überlasse ich jedem, das Maß an Mitschuld und das Maß an Entschuldigung zu bestimmen, das ihm richtig scheint, und weiß allzu gut, wie es Lagen und Zeiten gibt, welche Handeln und Bekennen von uns fordern und in denen doch alles, was wir tun mögen, falsch ist ... Mögen Sie, liebe, verehrte Frau Seidel, noch etwas von dem Gras zu sehen bekommen, das über alle Trümmer wächst.«
Da ist von beidem die Rede: von den Trümmern, in die ein falsches Weltbild gesunken ist - und dem »Gras des Vergessens«, das nicht zufällig auch zum Titel von Valentin Katajews erschütternden Memoiren wurde. Es muss jedem überlassen bleiben, darüber zu urteilen, ob Hesses Haltung Finckh und Seidel gegenüber nun weise ist oder das Gegenteil davon. Mir erscheint sie auf vornehme Weise menschenfreundlich. Denn Hesses Humanismus ist nie abstrakt.
Gunnar Decker schreibt seit 1998 für neues deutschland. Ende Februar erscheint von ihm im Carl Hanser Verlag München die Biographie »Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten« (704 S., geb., 27,90 €).
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