Fehlende historische Einordnung
»Lebt wohl, Genossen«
Uwe Wirthwein und Kolja Wasin haben sich nie getroffen. Den Thüringer und den Leningrader verbindet, dass sie in den 1980ern ihren Traum im Sozialismus lebten. Wirthwein reiste auf eigene Faust durch die Sowjetunion, obwohl dort schon der Kauf einer Fahrkarte für Ausländer ein Problem war. Beatles-Fan Wasin baute ein Museum für Rock'n'Roll in seiner Heimatstadt auf, dessen herausragendstes Exponat ein Autogramm von Paul McCartney aus dem Jahre 1987 ist.
Solche kleinen Zeugnisse des Alltags und des zivilen Ungehorsams gegen unsinnige staatliche Repressionen werden in dem Multimedia-Projekt »Lebt Wohl, Genossen« von Arte leider auf die Website verbannt. Der deutsch-französische TV-Sender verspricht eine Innenansicht des Sozialismus, löst diesen Anspruch aber nicht ein. Geschichten wie jene von Wirthwein und Wasin passen kaum ins Bild des tristen Lebens mit endlosen Schlangen vor leeren Lebensmittelläden und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit im Reich des Kommunismus. Der 2,2 Millionen Euro teuren sechsteiligen Doku-Serie des russischen Regisseurs Andrei Nekrassow geht es eher darum, das Scheitern der Ideen von Marx und Engels für alle Zeiten zu beweisen.
Nur, der Widerspruch zwischen den Visionen der Philosophen und der Wirklichkeit in den sozialistischen Ländern, insbesondere durch die Deformationen unter Stalin, wird von den Autoren György Dalos, Autor des gleichnamigen Buches, Andrej Nekrassow und Jean-Francois Colosimo aus Frankreich nur am Rande erwähnt.
Die Ursachen für den Mauerfall und die Wende 1989 werden nicht in der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung der Länder selbst gesucht. Auslöser sei die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki, in deren Korb Drei der Westen dem Osten Europas die Garantie der Menschenrechte untergejubelt habe. Aus allen Ländern werden Beispiele von Künstlern angeführt, die Schwierigkeiten mit der staatlichen Zensur hatten - die Prager Rockgruppe »Plastic People«, der tschechische Dichter Vaclav Havel oder das Moskauer Taganka-Theater. In bunter Folge wird deren Schicksal im ersten Teil der Serie beschrieben, es fehlt jede historische Einordnung und vergleichende Analyse.
Afghanistan, der Boykott der Olympischen Spiele, Solidarność, Papst Johannes Paul II, dann die Hoffnungen auf Gorbatschows Perestroika und Glasnost, die von den greisen Machthabern aus den Zentralkomitees der anderen kommunistischen Parteien lange ignoriert wurde - auch die folgenden Serienteile beschränken sich auf einen Rückblick auf die wichtigsten Ereignisse der 1980er. Dass Gorbatschow kaum Rezepte zur Gesundung der Ökonomie in seinem Riesenreich hatte und ihm keine Zeit blieb, die ersten Reformen zu korrigieren, wird nur angedeutet.
So bleibt unter dem Strich eine herbe Enttäuschung über ein Projekt, das an seinem eigenen Anspruch scheitert und vor allem keine Antwort auf die im Moment brennende Frage geben will, ob die Ideen von Marx und Engels auf den Müllhaufen der Geschichte gehören.
Arte, heute, 21.50 Uhr; 31. Januar, 21,45 Uhr; 7. Februar, 22 Uhr; www.farewellcomrades.com/de
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