Zahnarzt im Waschsalon
Ein Diakonie-Projekt in Hagen versorgt von Armut Betroffene mit Essen und medizinischen Dienstleistungen
Das Schild auf dem Tisch ist eindeutig: Tabu sind hier Alkohol, Drogen, Geldgeschäfte, Waffen, Gewalt und Drohungen. Dabei wirken die rund zwei Dutzend Menschen, die an diesem Montagmorgen im Januar ihr Frühstück verzehren ebenso friedlich wie die ehrenamtlichen Helfer, die ihnen Brötchen schmieren und Kaffee servieren. Der Preis des Cafés in der Nähe des Hagener Hauptbahnhofes ist unschlagbar: 50 Cent werden erbeten. Als Spende.
Wer selbst die nicht aufbringen kann, wird dennoch verköstigt. Mit knurrendem Magen verlässt niemand »Luthers Waschsalon«, eine Einrichtung der Diakonie Hagen/Ennepe-Ruhr. Das Angebot ist umfassend: Hier können von Armut betroffene Bürger der Stadt Hagen ihre Wäsche reinigen, duschen, sich die Haare schneiden lassen. Sie erhalten auf Wunsch neue Kleidung. Sie werden medizinisch und zahnärztlich betreut. Und beraten.
»Wir setzen bewusst auf niederschwellige Angebote wie unser Frühstück. So kommen wir mit den Leuten ins Gespräch«, sagte Heike Spielmann, die Luthers Waschsalon leitet. »Oft«, berichtet die Sozialarbeiterin, »erfahren wir dann von ihren rechtlichen oder gesundheitlichen Problemen und schicken die Leute hoch in den ersten Stock.«
Der »erste Stock« - rechts geht es zur Kleiderkammer, wo die angehende psychologische Beraterin Maria Ibishi lächelnd wartet. Zwei Zimmer weiter lässt ein junger Mann sich die Haare schneiden. Martina Lange, die mit Schere und Rasierer hantiert, ist Friseurmeisterin. Ihre Dienste würden stark nachgefragt, erzählt sie. Und: »Die Leute gehen mit einem strahlenden Lächeln.« Wie die meisten Helfer arbeitet Lange ehrenamtlich.
Heike Spielmann, die Chefin, sitzt in ihrem Büro und klärt versicherungstechnische Fragen. Knapp zehn Prozent der Kunden seien nicht versichert, sagt Heike Spielmann. »Aber irgendwie kriegen wir die meisten in die Krankenkasse.« Diesmal geht es um eine 16-Jährige, die ihre Familie verließ und nach einigen Umwegen in Hagen landete.
Ist sie überhaupt versichert, und sei es über den Vater, zu dem sie keinen Kontakt mehr hält? Klar ist eigentlich nur dreierlei: Ihr Arm ist gebrochen. Sie braucht Hilfe. Und verfügt nicht über eine Versichertenkarte. Telefonisch eruiert Heike Spielmann die Versicherungsnummer der jungen Dame. Heißt: Die Kosten der Behandlung werden wohl von der Kasse übernommen.
Wegweiser durch den Behördendschungel
Dann bittet Spielmann die Ausreißerin zum Gespräch. »Sie müssen sich um Ihre Krankenkassenkarte kümmern, das ist ein ganz wichtiges Dokument. Ohne die haben Sie immer Stress«, rät Spielmann eindringlich. »Die Leute bei der Krankenkasse sind eigentlich ganz nett und unterliegen der Schweigepflicht«, wirbt sie um Mitarbeit der Jugendlichen. Und nennt ihr die Adresse. Die Adresse der Kundin hingegen stellt ein weiteres Problem dar: Sie wohnt, sagt sie, bei ihrem Freund in Hagen. Kann sie dort Post empfangen - insbesondere die neue Krankenkassenkarte? Die 16-Jährige druckst herum. »Sehen Sie bitte zu, dass Ihre Post irgendwo ankommt«, sagt Spielmann freundlich, aber durchaus bestimmt.
Frau Spielmann macht Vorschläge. Und weist auch ansonsten manchen Weg durch den Behördendschungel. Wie kann die junge Frau Hartz IV beantragen? Wo kann ihr das Jugendamt nützlich sein? Nur in einer Frage bleibt die Helferin pessimistisch: Die Suche nach dem erhofften Ausbildungsplatz »wird schwierig in Ihrer Lebenssituation.«
Immerhin, der Armbruch kann nun behandelt werden. Ein Zimmer weiter arbeiten der pensionierte Internist Dr. Peter Gierlich und der Krankenpfleger Lutz Waschinsky. »Einige Leute trauen sich nicht mehr zum Hausarzt«, sagt Dr. Gierlich, und meint damit nicht nur Obdachlose, sondern auch Hartz-IV-Empfänger. Psychologisches Einfühlungsvermögen sei wichtig: »Wir sind innerlich offener, können uns mehr Zeit nehmen.«
Das Hauptproblem sei jedoch die Praxisgebühr von zehn Euro, die sich viele nicht mehr leisten könnten. Man behandle überproportional viele Hauterkrankungen, meist bedingt durch Obdachlosigkeit. Oft überhohen Blutdruck. Und ansonsten die ganze Palette denkbarer Erkrankungen. »Wir tun, was wir können, und das ist eine ganze Menge«, sagt Lutz Waschinsky, der Krankenpfleger.
Derweil liegt ein junger Mann auf dem zahnärztlichen Behandlungsstuhl, der eigentlich nur zum Frühstücken kam und bei dieser Gelegenheit ein Mittel gegen seine Zahnschmerzen erbat. Behandelt wird er von dem Zahnarzt Dr. Hans Ritzenhoff - und zwei Studenten der gerade in diesem Bereich sehr renommierten privaten Universität Witten-Herdecke.
Die Hochschulangehörigen sammeln hier praktische Erfahrungen. Und die sind nahe am Leben im krisengeplagten Kapitalismus. »Meine Studenten lernen, wie die Realität ausschaut«, berichtet Dr. Ritzenhoff. »Wir können leider nicht immer die optimale Therapie anbieten«. Doch in der Praxis müsse man oft Abstriche machen - auch jenseits von »Luthers Waschsalon«. Viele seiner Patienten könnten die Eigenanteile für Zahnersatz nicht leisten. Doch seit einigen Jahren gebe es einen »Deal« mit einem Dentallabor, das ehrenamtlich Zahnersatz herstelle.
Hagen ist bekannt als Stadt der Fernuniversität. Die Popsängerin Nena (»Wunder gescheh'n«) wurde hier geboren. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 11 Prozent - andere Ruhrgebietsstädte trifft es indes noch härter. Parallel zur Hagener Suppenküche wurde 1997 »Luthers Waschsalon« gegründet. 2010 zog man um in die Körnerstraße 75, weil die Kellerräume im Gemeindehaus der evangelischen Luther-Gemeinde zu wenig einladend und extrem renovierungsbedürftig waren.
Nun sieht, wer »Luthers Waschsalon«, verlässt, den mächtigen Tower jener Behörde, die aus Imagegründen nicht mehr Arbeitsamt genannt werden will. Dort kann der Bedürftige Regelleistungen nach Sozialgesetzbuch II beantragen. Hartz IV halt. Heike Spielmann ist nicht begeistert: »Die Regelsätze sind zu niedrig. Und da ist jetzt alles pauschal eingerechnet.«
Ihre Kunden seien allesamt Lebenskünstler. Dennoch reiche es nicht hinten und nicht vorne. »Das geht so nicht«, sagt sie apodiktisch über die Folgen der Agenda 2010. »Das widerspricht meinem Gerechtigkeitsempfinden.« Sie möchte, sagt Spielmann, »einmal die Entscheider erleben, wie sie von ihren eigenen Regelsätzen leben können.«
Von den Betroffenen werde beispielsweise erwartet, dass sie Rücklagen für den neuen Personalausweis bilden, den sie irgendwann in der Zukunft beantragen müssen. »Aber wie viele Jahre muss ich dafür sparen, wenn für den Perso 25 Cent pro Monat im Regelsatz vorgesehen sind?«
Das Identitätsdokument jedoch ist nicht die größte Sorge ihrer Kunden. »Sie sollen für alles ansparen, bis hin zur Waschmaschine, für die bei der alten Sozialhilfe ›einmalige Leistungen‹ gewährt werden konnten.« Das sei auch einer der Gründe, warum »so viele unser Angebot nutzen und ihre Kleidung bei uns waschen.« Immer wieder gebe es zudem Ärger um die Übernahme behördenseits als zu hoch empfundener Heizkosten. Spielmann hat dafür eine Erklärung: »Viele unserer Kunden leben in schlecht isolierten Wohnungen.«
Unterstützung, weil der Sozialstaat versagt
Zunehmend kämen Menschen in die Körnerstraße, die durch die Maschen des Sozialstaates gefallen oder von der Arge mit Sanktionen belegt worden seien. Dabei seien die Hartz-Reformen erst der »zweite Schlag« gewesen. Schlimmer war für Spielmann der erste: das Gesundheitsmodernisierungsgesetz. Der 2003 erfolgte »Versuch einer Reform des deutschen Gesundheitswesens unter Kostengesichtspunkten« (so Wikipedia durchaus präzise) habe, sagt Spielmann, »die Zahl unserer Kunden nach oben schnellen lassen«. Nämlich schlicht verdoppelt.
Gerade chronisch Kranke würden seitdem merken, wie das Leistungspaket mehr und mehr ausgedünnt werde. »Den Betroffenen fehlt am Ende des Monats das Geld, weil sie jetzt manche Medikamente selber zahlen müssen und erst nach Erreichen der Zuzahlungsgrenze befreit werden.« Dann stünden viele vor der Frage: »Zahle ich die Stromrechnung oder meine Medizin?«
Als Besucher in »Luthers Waschsalon« macht man die Erfahrung, dass es reale Armut in der Bundesrepublik gibt. Ein halber Euro Spende für das Frühstück? »Am Anfang des Monats haben noch viele 50 Cent, am Ende des Monats die meisten nicht mehr«, berichtet Heike Spielmann. »Viele haben gar kein Geld, nie.«
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