Wenn Leben der Lohn ist

Holocaust-Überlebende forderten Rentennachzahlungen für ihre Arbeit im Ghetto - vergebens

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.
Jüdische Opfer der Nazidiktatur wollten für ihre erzwungene Ghetto-Arbeit Anspruch auf Rentennachzahlungen durchsetzen. Doch das Bundessozialgericht in Kassel entschied gestern: Für Nachzahlungen aufgrund von Überprüfungsbescheiden zu sogenannten Ghetto-Renten gelten keine Sonderregeln.
Wulkow in Brandenburg: Ein Versuch, der Opfern der Nazi-Tyrannei zu gedenken. Das ist keineswegs die Regel in Deutschland.
Wulkow in Brandenburg: Ein Versuch, der Opfern der Nazi-Tyrannei zu gedenken. Das ist keineswegs die Regel in Deutschland.

Es ist bitterkalt, doch hinterm hügeligen Feldhang wächst die Morgensonne empor. Eine Kreissäge schickt nervendes Kreischen. Es verliert sich im Wald. Wulkow, ein winziger Ort dicht am brandenburgischen Neuhardenberg, will nicht erwachen. Gleich hinterm Ortseingangsschild hat man einen Findling mit einem schmucklosen Schild versehen: »Zur Erinnerung an das Leiden der jüdischen Häftlinge im KZ-Aussenlager Wulkow. 1944 - 1945. «

Die menschliche Platte enthält vermutlich mehrere Fehler. Es gab hier in dieser Zeit zwar ein Lager, doch war dies kein Konzentrationslager. Die geknechteten Insassen waren auch keine Häftlinge, sondern »Ghetto-Juden« aus Theresienstadt. Das liegt heute im Tschechischen und heißt Terezín.

Wer diese Richtigstellung angesichts des Leidens der Insassen für unpassend und kleinkariert hält, kennt wohl den Umgang deutscher Gerichte mit dem Thema nicht. Denn für die macht es einen gewaltigen Unterschied, ob jemand im KZ gequält wurde oder in ein Ghetto gepfercht worden war.

Nur zu gern subsumiert man Zuwendung für die Gequälten als Entschädigung oder gar Wiedergutmachung. Doch darum geht es nicht in dem Fall, den die Bundessozialrichter in Kassel zu entscheiden hatten. Es ging um Rentenzahlungen, Altersgeld also für geleistete Arbeit. Jahrelang sträubten sich deutsche Rentenkassen gegen Zahlungen an jene, die in Ghettos gearbeitet hatten.

Rentenzahlungen an Holocaust-Überlebende? Das klingt angesichts des planmäßigen Massenmordes absurd. Doch das Leben ist bisweilen absurd. Historiker schätzen, dass die deutsche Sozialversicherung in den Jahren des Nazi-Rassenwahns rund eine Milliarde Mark Rentenbeiträge für die Arbeit der Juden erhalten hat. Man hatte damals keine Befürchtungen, jemals Renten an die Berechtigten zahlen zu müssen. Denn lange bevor die zur Auszahlung hätten kommen müssen, tat die Mordmaschinerie der Nazis ihr gnadenloses Werk.

Einige wenige Juden überlebten und irgendwann stellten sie ihre berechtigten Ansprüche. Im Sommer 2002 verabschiedete der Bundestag endlich einstimmig das sogenannte Ghetto-Renten-Gesetz. Mit dem rückwirkenden Inkrafttreten wollte man die Auszahlung der Rentenansprüche ab 1997 ermöglichen. Doch das Gesetz hat einen Haken. Rente kann nach deutschem Recht nur derjenige beziehen, der im Ghetto freiwillig gegen Entgelt eine Arbeit verrichtete. Schon im Parlament erregten entsprechende Formulierungen Unwillen. Der Anwendungsbereich des Gesetzes, so hieß es da, erstreckte sich auf Arbeiten, die »aus eigenem Willensentschluss« und »gegen Entgelt« ausgeübt wurden.

Man stelle sich einen der hochbetagten ehemaligen Ghettoinsassen vor, der im Vordruck der Rentenversicherer Antworten auf die Frage ankreuzen soll: »Wie kam es zur Arbeitsaufnahme innerhalb oder außerhalb des Ghettos? - Ich habe mir die Arbeit selbst gesucht; Die Arbeit wurde mir auf Anfrage vermittelt (ggf. welche Stelle vermittelte die Arbeit); Ich wurde unter Anwendung oder Androhung körperlicher Gewalt zur Arbeitsaufnahme gezwungen.« Wie sollen die Überlebenden beweisen, dass sie sich in einer Zeit der systematischen Demütigung und Bedrohung selbst für eine Arbeit entschieden haben? Und wie errechnet man die Rente, wenn ein Teller Suppe oder eine Scheibe Brot der Lohn waren.

Charlotte Guthmann-Opfermann (1. 4. 1925 - 22. 11. 2004), hat man als junge Frau aus Wiesbaden in das Ghetto Theresienstadt getrieben. Als Nummer XII/5/11. Die XII bedeutete, der Transport kam aus Frankfurt am Main. Die 5 sagt, es war der fünfte Transport, sie selbst war die Nummer 11. Charlotte Guthmann-Opfermann überlebte und hat sich zeitlebens bemüht, Nachwachsende über die Verbrechen der Nazis aufzuklären. Nachzulesen ist manches in der Dokumentation zu Theresienstadt: »Zu Anfang wurde jeder in die Arbeitskolonne eingeteilt, zum Putzen oder anderen sich täglich wiederholenden Gruppenarbeiten. Wenn wir erst vom Arbeitsprogramm erfasst wären, so sollten wir Augen und Ohren offen halten nach Möglichkeiten, die entweder mit der Verpflegung oder mit der Verwaltung zu tun hätten.«

Die Chance hatten wenige, aber es gab ja auch das Sägewerk und die Glimmerfabrik. Zudem schuftete man auf Feldern. Dazu gab es Außenkommandos. Eines in Wulkow. Anfang März 1944 war Abmarsch. Östlich von Berlin sollte ein Ausweichstandort für die Berliner Gestapo errichtet werden. Die Arbeitszeit im Sommer reichte von 6 bis 22 Uhr, im Winter von 7 Uhr bis zur Dunkelheit. Sieben Tage die Woche baute man Baracken, Bunker, Garagen. Man köderte die vor allem jungen Arbeitssklaven mit dem Zugeständnis, solange sie im Außenkommando schufteten, würde man ihre Angehörigen nicht aus dem Ghetto »umsiedeln« - ins Gas. Leben war Lohn. Wie freiwillig war also die Beschäftigung?

215 Menschen kamen im Februar 1945 nach Theresienstadt zurück. 260 Personen waren zuletzt im Lager gefangen. Es ist nicht bekannt, ob heute noch einer der einstigen Sklaven lebt.

So gut das Ghetto-Renten-Gesetz gedacht war, so viele Haken hatte es. Die Mehrheit der Antragsteller ging leer aus, ohne selbst gehört worden zu sein. Im Zweifel gegen den Antragsteller, lautete offenbar die Losung der zuständigen Richter. Doch nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2009 musste die Rentenversicherung sämtliche Fälle neu aufrollen. Danach sind von 26 186 Fällen 23 818 positiv beschieden worden. Wieder mit Haken. Nicht nur, dass 7000 Antragsteller inzwischen verstorben waren. Die anderen erhielten ihre Rente nicht, wie bestimmt, rückwirkend zum Jahr 1997, sondern für die Jahre ab 2005. So sei das nun mal im allgemeinen Sozialrecht, hieß es.

Dagegen protestierte Ende vergangenen Jahres die Linksfraktion im Bundestag. (Drucksache 17/7985) Betroffene wandten sich voller Hoffnung auf Gerechtigkeit an das Bundessozialgericht in Kassel. Dessen 13. Senat befand gestern: Keine Sonderregelung für die Nachzahlung von »Ghetto-Renten«. Dies sei auch nicht verfassungswidrig, sagen die Richter.

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