Rechtsprechung nach dem Koran
Teile der islamischen Gesetzesordnung werden von deutschen Gerichten angewandt
Mainz/Erlangen (Agenturen/nd). Nach Meinung des rheinland-pfälzischen Justizministers Jochen Hartloff könnten islamische Schiedsgerichte bei zivilrechtlichem Streit wie etwa bei Unterhaltsfragen, Scheidungen und Geschäftsverträgen befriedend wirken. Dabei müssten sie im rechtsstaatlichen Rahmen agieren und von beiden Seiten akzeptiert werden. Union und FDP wiesen dies zurück. Sie warnten vor einer Paralleljustiz sowie vor Nachteilen für die Integration von Muslimen und für die Stellung von Frauen.
Die rheinland-pfälzische Partei- und Fraktionschefin der CDU, Julia Klöckner, erwartet, dass Hartloff im Rechtsausschuss von seinem Vorschlag wieder Abstand nimmt. Auf dpa-Anfrage sagte sie: »Nicht zuletzt im Hinblick auf das in der Scharia enthaltene mittelalterliche Rollenverständnis von Mann und Frau hätte ich von den rot-grünen Ministerinnen im Kabinett Kurt Beck (SPD) entschiedenen Widerspruch zu Hartloffs kruden Überlegungen erwartet.« Das gelte vor allem für die Integrations- und Frauenministerin Irene Alt von den Grünen. Gerade in Zeiten sogenannter Ehrenmorde, die aus einem fehlgeleiteten Ehr- und Rechtsverständnis resultierten, sei es der falsche Weg, für parallele Rechtsordnungen zu werben.
Für deutsche Gerichte ist die Scharia indes kein Fremdwort mehr. In Erbrechtsfällen, aber auch bei Scheidungen wird auch in Deutschland mitunter islamisches Recht angewandt.
Die Scharia, sagt der Erlanger Islamwissenschaftler und Jurist Mathias Rohe, ist »ein hochkomplexes System religiöser und rechtlicher Normen des Islam«. Anders als in islamisch geprägten Staaten wie etwa Iran, wo die Scharia seit Ende der 70er Jahre Hauptquelle der Gesetzgebung ist, ist der Rahmen in Deutschland eng gesteckt. Die Gerichtsentscheidung muss mit dem geltenden Recht vereinbar sein, sagt Rohe.
»Alle Arten von Straftaten wie Fälle häuslicher Gewalt werden ausschließlich nach deutschem Recht behandelt.« Wenn es aber um die private Lebensführung von Einwanderern geht, gilt das Internationale Privatrecht, nach dem etwa bei Scheidungsfällen oder in Erbrechtsfällen bei Ägyptern nach ägyptischem Recht, bei Iranern nach iranischem Recht geurteilt wird. »In Gestalt dieser Rechtsordnungen kommt dann auch die Scharia ins Spiel«, sagt Rohe.
Die Frankfurter Juristin Svenja Gerhard, die als Beraterin bei dem Verband binationaler Familien und Partnerschaften arbeitet, kennt zahlreiche Fälle aus der Praxis: Bei der Scheidung eines tunesischen Ehepaars etwa entschied ein deutsches Gericht, dass der Frau die Morgengabe - nach islamischem Recht eine Art finanzielle Absicherung der Braut - als nachehelicher Unterhalt ausgezahlt werden muss. In einem anderen Fall erkannte ein Gericht eine Ehe an, die in Tunesien durch zwei Stellvertreter per Handschlag geschlossen worden war.
In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Entscheidungen, die Aufsehen erregten. Das Bundessozialgericht in Kassel lehnte etwa im Jahr 2000 die Klage einer aus Marokko stammenden Witwe ab, die sich weigerte, die Rente ihres Mannes mit der Zweitfrau zu teilen. Das Gericht entschied mit Verweis auf islamisches Recht zugunsten der Zweitfrau. Beide Frauen hätten Anspruch auf den gleichen Rentenanteil.
Für Irritationen sorgte auch eine Erbrechtsentscheidung aus dem vergangenen Jahr. Damals teilte das Amtsgericht einer Münchnerin nach dem Tod ihres aus Iran stammenden Mannes mit, dass ihr anstelle des Alleinerbes nur ein Viertel des Erbes zustehe. Die übrigen Dreiviertel gingen an Verwandte des Mannes in Teheran. Auch hier trat ausländisches Recht in Kraft: Stirbt ein Ehepartner, der keinen deutschen Pass besitzt, gilt das Erbrecht seines Herkunftslandes, in diesem Fall das iranisch-islamische Recht.
Rohe betont, die deutsche Rechtsordnung billige grundsätzlich Eheverträge, in denen Ehefrauen nach islamrechtlichen Vorstellungen eine Brautgabe versprochen wird oder Wirtschaftsverträge, die Zinszahlungen vermeiden wollen. Die Scharia könne angewandt werden, wenn das Ergebnis für den deutschen Staat erträglich sei, meint Rohe. Zugleich sieht er in dieser Form der Rechtsprechung auch ein Mittel, einer islamischen Paralleljustiz vorzubeugen. »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Parallelstrukturen bekommen«, sagt der Gründungsdirektor des Zentrums für Islam und Recht in Europa an der Universität Erlangen. So könne Vertrauen in den Rechtsstaat bei manchen Migranten dadurch gestärkt werden, dass man ihre kulturellen Kontexte berücksichtigt und die Grundlagen europäischer Rechtsordnungen erklärt. »Vernünftige Vergleiche gibt es nur, wenn man mit den Leuten in ihrer Sprache spricht.«
Während es in Großbritannien seit 2007 mit dem »Muslim Arbitration Tribunal« eine offizielle islamische Schlichtungsstelle für Erbschafts-, Familien- und Handelsstreitigkeiten gibt, ist man in Deutschland in dieser Hinsicht zögerlich. Der Islamwissenschaftler Rohe verweist hierbei auf die Herkunft der meisten in Deutschland lebenden Muslime: Die Türkei habe 1926 das Schweizer Zivilgesetzbuch übernommen und sich damit von einer Scharia-Gesetzgebung distanziert. »Scharia-Gerichte in Deutschland würden der Rechtskultur der größten deutschen Minderheit also nicht gerecht«, schlussfolgert er.
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