Dresden springt über seinen Schatten
Erstmals könnte die Bürgerschaft in Sachsens Landeshauptstadt am 13. Februar geeint gegen Nazis protestieren
Das Plakat wirkte wie ein Stachel. »Gedenken allein reicht nicht«, stand auf dem Tuch, das Wilfried Schulz und seine Kollegen vom Staatsschauspiel über die Köpfe vor dem Dresdner Rathaus hoben. Tausende Bürger sammelten sich dort am 13. Februar 2011, um sich in eine Menschenkette einzureihen. Sie sollte die Innenstadt am Jahrestag ihrer Kriegszerstörung gegen Nazis schützten, die das Datum für ihre Zwecke umdeuten. Mit der Kette wollte man ihnen entgegentreten - symbolisch: Die Nazis liefen, als die Bürger sich längst wieder zerstreut hatten. Nicht nur Theaterintendant Schulz fand sich in einem Zwiespalt: Lohnt die Teilnahme dann überhaupt? Er kam - mit dem Transparent.
Ein Jahr später sitzt Schulz in seinem Büro unter dem Dach des Theatergebäudes und verfällt auf die Frage, ob das Transparent 2012 wieder hervorgeholt wird, in Nachdenken. Wieder gibt es am 13. Februar eine Menschenkette, wieder haben Nazis einen angeblichen »Trauermarsch« angemeldet. Der Appell indes, den Schulz einst auf das Tuch schrieb, muss den Bürgern vielleicht nicht erneut vor Augen gehalten werden. »Es hat sich viel getan«, sagt er. Der Intendant, der sich 2011 noch »hilflos« fühlte, erklärt jetzt: »Wir sind guter Hoffnung.« Außer der Menschenkette soll es diesmal eine Demonstration in Hör- und Sichtweite zu den Nazis geben, zu der die Stadt einlädt. Die »verkrusteten Verhältnisse«, die Schulz 2009 bei seiner Ankunft in Dresden vorfand - sie scheinen aufzubrechen.
Verkrustete Verhältnisse, das heißt: eine Bürgerschaft, die tief gespalten war in der Frage, wie sie mit dem 13. Februar umgehen soll. Mit der Trauer um 25 000 Tote und die Zerstörung ihrer Innenstadt vor 67 Jahren, aber auch mit den immer ausufernderen Aufzügen der Nazis. Für einen Teil der Bürger gehörte der Tag dem stillen Gedenken - das sich nicht mit lautstarkem Protest vertrug. Andere wiederum klagten, gerade dieses ausschließlich stille Gedenken erlaube es den Nazis, sich in der Stadt willkommen zu fühlen.
Die Meinungen standen unversöhnlich nebeneinander - und führten zu »hochnotpeinlichen« Bildern, erinnert sich Grit Hanneforth. Die Chefin des Kulturbüros Sachsen, das Kommunen und Schulen zum Umgang mit Rechtsextremismus berät, hat Szenen wie im Februar 2009 vor Augen, als 8000 Neonazis schweigend an der Einkaufsmeile Prager Straße vorbeizogen, während Passanten sich durch die Reihen wanden. An der Semperoper bekundeten Teilnehmer der Veranstaltung »GehDenken« ihre Wut - wovon die Nazis indes nichts hörten. Die CDU-Rathauschefin, deren Partei sich nicht zur Teilnahme durchringen konnte, verteilte andernorts weiße Rosen als Symbol des Gedenkens. »Das waren armselige Bilder«, sagt Hanneforth: »Das ärgerte.«
Vielleicht waren es genau dieser Ärger und die Scham, die ein Umdenken anstießen. Sie paarten sich 2010 mit der Erkenntnis, dass auch in Dresden Nazis mit Erfolg blockiert werden können. Und sie ergriffen weitere Teile der Bürgerschaft, als 2011 klar wurde, mit welchem Eifer Behörden bei der Suche nach Störern die Daten Tausender unbeteiligter Handynutzer erfassten. Das, sagt Hanneforth, habe »noch ganz andere Leute wach gerüttelt« - auch in gutbürgerlichen Kreisen.
Zeichen dafür, dass neu nachgedacht wird in Dresden über die Erinnerung an den 13. Februar, gibt es viele. Noch vor einigen Jahren war ein Symposium des Kulturbüros eine Ausnahme: Eingeladen waren Überlebende deutscher Luftangriffe auf Coventry und Juden, die den Holocaust erlebt hatten. Die Zerstörung Dresdens, so die Botschaft, hatte eine Vorgeschichte. Eine für die Kulturstadt unangenehme, ergänzt Intendant Schulz, der mit seiner Kollegin von der Semperoper eine Ausstellung zur »Vertreibung der ›Juden‹ und ›politisch Untragbaren‹ aus den Dresdner Theatern« zeigte. Die »Machtergreifung« fand dort schon vor 1933 statt. Just das kunstinteressierte Dresdner Bürgertum, so die bittere Erkenntnis, verfiel besonders rasch dem braunen Ungeist. Dresden, betonten Historiker, war nicht nur Stadt der Opfer. Die reine Kulturstadt, die »unschuldig« zerstört wurde - es gab sie nicht.
Dass diese Einsicht um sich griff, war ein Baustein dafür, dass sich Dresden vielleicht erstmals geschlossen der braunen Vereinnahmung entgegenstellt. Der zweite ist ein neuer Respekt dafür, dass Vielfalt die Voraussetzung für derlei Geschlossenheit ist - was weniger widersprüchlich ist, als es klingt. Gewachsen ist die Erkenntnis, dass es nicht eine richtige Form von Gedenken und Protest gibt, sondern dass die Menschenketten, Mahnwachen, Kundgebungen und auch Blockaden nötig sind. »Wir brauchen die Vielfalt«, sagt Hanneforth, »sie ist das einzige, was uns retten kann.«
Der Weg zu dieser Einsicht war steinig. Das weiß vermutlich keiner besser als Frank Richter. Der Pfarrer, der ab Oktober 1989 mit der von ihm gegründeten »Gruppe der Zwanzig« den friedlichen Wandel in der Stadt organisieren half und heute die Landeszentrale für politische Bildung leitet, moderiert seit 2009 eine von Oberbürgermeisterin Helma Orosz einberufene »Arbeitsgruppe 13. Februar«, in der alle Ratsfraktionen, die Gewerkschaften, Kirchen und Vereine versuchen, einen neuen Umgang mit dem heiklen Datum zu finden. Ein mühsames, zeitweise fast aussichtsloses Unterfangen - nicht zuletzt, weil Debakel früherer Jahre in Vorwürfen und Anschuldigungen mündeten. »Wenn aber die Beziehungsebene gestört ist«, sagt Richter, »geht auf der Sachebene auch nichts mehr.«
Auch in dieser Runde aber brechen die »verkrusteten Verhältnisse« auf. Mit Mühe und vielen Einzelgesprächen gelang es Richter, einen Minimalkonsens herauszuarbeiten: die Einsicht, dass man den Nazis entgegentreten muss. Zwar wurde das Thema Blockaden lange ausgeklammert. Selbst die Frage des Protestes in Sicht- und Hörweite bleibt heikel. Sie sei die »Sollbruchstelle«, räumt Richter ein. Dass es aber erstmals eine Protestveranstaltung geben wird, zu der von CDU bis LINKE aufgerufen wird, kommt in Dresden einer Revolution gleich.
Kürzlich gab es sogar ein Gespräch zwischen Mitgliedern der AG und Vertretern des Bündnisses »Dresden nazifrei!«, das seit 2010 bundesweit zu Blockaden mobilisiert. Bei dem Thema, sagt Richter, bleibe zwar ein »unüberbrückbarer Gegensatz«. Man habe sich aber gegenseitig versichert, dass zwischen AG und Bündnis »keine politische Gegnerschaft« besteht. Für Dresden, sagt Grit Hanneforth, sei das ein »Quantensprung«: Endlich herrsche »Augenhöhe zwischen allen Beteiligten«. Es seien, merkt Intendant Schulz an, »viele hier über ihren Schatten gesprungen«.
Noch, fügt nicht nur der Theatermann an, ist offen, ob die Übereinkunft von Dauer ist. Vieles wird davon abhängen, wie der 13. Februar abläuft: ob es gelingt, ein klares Zeichen des Protests gegen den erwarteten Aufmarsch von 2000 Nazis zu setzen, ohne dass die Lage eskaliert. Der Ton der Debatten indes sei schon anders, sagt Schulz: Ein kritischer Blick auf die eigene Geschichte werde möglich, »ohne dass das gleich als Beschmutzung empfunden wird«.
Das Theater hat dazu beigetragen. Im Oktober kam Harry Mulischs Roman »Das steinerne Brautbett« auf die Bühne, die Geschichte eines US-Bomberpiloten, der 1956 in das unter seiner Beteiligung zerstörte Dresden zurückkommt. Das Stück stellt die Frage nach Tätern und Opfern, die Dresden so sehr beschäftigt - und zwar, schrieb eine Rezensentin, »fern jeglicher Gedenkroutine«. Womöglich ist die Routine auch jenseits des Theaters durchbrochen. Dann könnte Schulz sein Plakat getrost zu Hause lassen.
Siehe auch:
Wo Herumstehen bestraft wird - Die Immunität zweier LINKE-Bundestagsabgeordneten wurde aufgehoben [nur Abo]
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