Das Indigene in uns
Ehrenamtliche Gemeindearbeit in den Anden - auch der globale Norden kann davon lernen
In den südamerikanischen Anden ist das Commoning ein Teil des indigenen Lebensgefühls, das die kapitalistischen Konzepte der ehemaligen Kolonialmächte zurückweist. Mingas und andere Gemeinschaftsarbeiten orientieren sich nicht an wirtschaftlicher Effizienz, sondern an einem zufriedenen Zusammenleben - ein Vorbild auch für Europa.
Ich treffe Carlos Pérez in Cuenca im Süden von Ecuador. Er leitet den Wasserrat der Region, der die umliegenden Gemeinden dabei unterstützt, ihr Wasser selbst zu verwalten. Als die DorfbewohnerInnen gegen ein Gesetz kämpften, das das Recht der Kommunen auf ihre eigene Wasserversorgung bedrohte, standen Carlos und der Rat auf ihrer Seite. »Den Leuten hier ist es wichtig, dass nicht irgendein Manager oder Bürokrat über das Wasser entscheidet, sondern sie selbst in der Gemeindeversammlung«, erklärt Carlos.
Auf diese Weise bezahle jede Familie zwei US-Dollar im Monat für ihr Wasser, mit denen die Pumpen und Rohre gewartet werden. In Städten wie Cuenca dagegen kostet die Wasserversorgung zehn US-Dollar monatlich, weil die Bürokratie so teuer ist: Die Leiter der Wasserkomitees in den Gemeinden arbeiten ehrenamtlich; ihr Kollege in Cuenca bekommt ein Monatsgehalt von 3000 US-Dollar.
Doch die lokale Wasserversorgung zahlt sich nicht nur finanziell aus, sondern auch sozial. Die ganze Gemeinde engagiert sich im Commoning, um das Wasser zu verwalten und zu nutzen. In den Andenländern heißt diese unbezahlte Gemeindearbeit »Minga«. Das ist Quechua und bedeutet nicht nur Arbeit, sondern auch Geselligkeit von Männern, Frauen und Kindern, die meist in einem großen Festschmaus endet. »Die Wasser-Mingas sind auch Mingas der Ideen, der Wünsche und Fantasien«, sagt Carlos. Es werden nicht nur Rohre verlegt, Steine bewegt, Metall gebogen und Essen geteilt; nein, die DorfbewohnerInnen diskutieren auch andere wichtige Dinge, die nichts mit dem Wasser zu tun haben.
Soziale statt wirtschaftliche Effizienz
Mingas sind nicht hierarchisch und sie bemessen Erfolg anders als kapitalistische Unternehmen. Für Carlos ist »Effizienz« ein schmutziges Wort im Zusammenhang mit den hehren Absichten des Commoning. Schmutzig, weil es alles andere ausschließt: Leben, Gerechtigkeit, Solidarität, Reziprozität und die Erde. Ein Loch zu graben und einen Pfahl einzurammen kann harte Arbeit sein, wenn nur wenige Leute eingesetzt werden, um Kosten zu sparen und die Effizienz zu steigern. Wenn dagegen die ganze Gemeinde eingebunden ist, fühlt es sich nicht wie Arbeit an - wobei, zugegebenermaßen, die »Effizienz« in diesem Fall ziemlich gering ist. Die gemeinsame Freude, das Teilen und miteinander Leben sind in der Minga untrennbar miteinander verbunden.
Überall in den Anden existieren bis heute verschiedene Formen des Commoning in allen möglichen Lebensbereichen; die Minga ist nur eine davon. Damit konnte die indigene Kultur trotz 500 Jahren der Morde und der Genozide ihre Würde zurückgewinnen: Denn die AndenbewohnerInnen wertschätzen ja gerade das, was die Kolonialisten verachtet und entwertet haben.
Die massiven Kämpfe gegen Einhegungen und Privatisierungen sind von der Idee des Commoning getragen. 2001 zwangen mehrere Wasserräte in der bolivianischen Stadt Cochabamba die Regierung zu einer historischen Kehrtwende; sie bereiteten den Weg für eine neue Verfassung, die die Commons als ein Schlüsselelement des plurinationalen bolivianischen Staats anerkannte.
Während meiner Reise durch die Anden fiel mir wieder ein, dass auch wir im globalen Norden vor nicht allzu langer Zeit noch »Mingas« kannten, auch wenn wir sie nicht so nannten. Auch wir müssen unsere Geschichte wiedererlangen - nicht, um in die Vergangenheit zurückzukehren, sondern um nach vorne zu blicken. Wir müssen sichtbar machen und wertschätzen, was heute unsichtbar und irrelevant ist, weil wir es mit den Augen des Kolonialisten in uns sehen - jenes Homo oeconomicus, der nur in Effizienzmaßstäben und Wettbewerbsbeziehungen spricht. Kurzum: Wir müssen das Indigene in uns zurückerobern.
Mutter Erde setzt uns Menschen Grenzen
Warum haben wir es überhaupt verschwinden lassen in unseren politischen Diskursen und Praktiken? Mein Großvater war Landwirt und beteiligte sich bis zu seinem Umzug in die Stadt vor 60 Jahren routinemäßig an Ernten und Bauarbeiten mit anderen Bauern seines Dorfes. Im letzten Juni erwachte diese schlummernde Erinnerung wieder, als in meinem Dorf in den italienischen Apenninen ein Tag unter dem Motto »Wir erobern den Park zurück« stattfand.
Ein paar Hundert BewohnerInnen, alt und jung, kamen in einem Geist zusammen, der mich an die ecuadorianischen Mingas erinnerte. Sie brachten all ihre Fähigkeiten zusammen, befestigten Spielgeräte im Park und bauten einen Brunnen wieder auf. Andere Formen der Mingas gibt es auch bei uns in sozialen Zentren, in Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und in der Gemeindearbeit.
Das Commoning in den Anden basiert auf einer Vorstellung von der Erde als Mutter, als »Pachamama«. Es ist eine Idee, die uns Alternativen zum Kapitalismus aufzeigt. Mit der Pachamama kommt die Dimension des Heiligen und der Grenze in die revolutionäre Politik, ohne dass wir es dabei gleich mit einer Religion zu tun bekommen. Die Mutter Erde geht über Begriffe wie »Erde« oder »Umwelt« hinaus. Zunächst setzt das Konzept voraus, dass alle Lebewesen eine gemeinsame Genealogie und ein gleiches Ziel haben: Unsere Körper werden wieder zu Erde, wenn wir sterben - ob wir nun ein Meerschweinchen sind oder ein Mensch.
Zweitens steht das andine Weltbild für ein Geflecht von Beziehungen, das Menschen und andere Spezies, aber auch Wasser, Berge und Meere umfasst: »Die Erde gehört nicht den Menschen, sondern die Menschen der Erde«, heißt es. Schließlich ist die Pachamama allumfassend; selbst die menschlichen Prozesse, die Kapitalismus genannt werden, unterstehen diesem System. Wenn wir jedoch die menschlichen Grenzen nicht akzeptieren, wenn wir sie nicht sozial verstärken und ihnen den Charakter eines Tabus geben, dann wird die »Mama« wütend und kämpft zurück. Der Planet wird auch nach uns existieren, wie er Millionen Jahre zuvor existiert hat, doch es wird niemanden mehr geben, der oder die ihn »Mutter« nennt.
Geben und Nehmen - für das Gleichgewicht
Doch die Pachamama dient nicht nur als Grenze für den Kapitalismus; sie wird als lebendiges Wesen verstanden, als Gesamtheit ausgleichender Prozesse und Energien. Unsere Rolle als Menschen besteht darin, an diesem Ausgleich mitzuwirken, nicht darin, ihre »Ressourcen« zu erschließen. Daher müssen wir unsere wirtschaftlichen Ziele und Beziehungsgeflechte, unsere Produktions- und Reproduktionsweisen den ausgleichenden Prozessen der Pachamama anpassen. In Gegenwart von sozialer Ungerechtigkeit ist diese Anpassung nicht möglich, denn Ungerechtigkeit ist die Quelle und die Folge des Ungleichgewichts.
Ebenso wenig gelingt die Anpassung durch »Entwicklung«, denn Entwicklung, wie wir sie kennen, ist eine Quelle sozialer Ungerechtigkeit. In den Anden wird diese Aufgabe im Allgemeinen durch das Konzept des »Buen Vivir« oder »Sumak kawsay«, des »Zufriedenen Zusammenlebens«, gelöst. Dieses Konzept wurde sogar in die neuen Verfassungen von Ecuador und Bolivien aufgenommen.
Buen Vivir ist das Ergebnis des Commoning. Es bedeutet in Harmonie zu leben, gute Luft zu atmen, betroffen zu sein, wenn der Nächste nichts zu essen hat, zu teilen (compartir) und zusammenzuleben (convivir), in Harmonie mit der Familie oder der Gemeinde. Nach den Konzepten der Pachamama und des Buen Vivir steht der Mensch nicht im Zentrum der Welt, sondern er ist Teil eines Systems. Damit ist das Buen Vivir keineswegs der Weg des klassischen Sozialismus, der den Fortschritt zum Fetisch erhebt und glaubt, der Mensch könne den Fortschritt endlos kontrollieren.
Stattdessen ist die Idee der Gegenseitigkeit ausschlaggebend, wie sie im Andenkreuz symbolisiert wird. Um mir dies zu erklären, kreuzt Carlos seine Arme. Eine Hand zeigt zum Boden - sie empfängt -, die andere zum Himmel - sie gibt. Geben und Nehmen, Himmel und Erde: In den Anden beteiligen sich nicht nur die Menschen am Commoning, sondern alle »Kinder« der Pachamama.
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