Die Fee wird durchgelassen!
Trauerfeier für Thomas Langhoff im Berliner Ensemble
Er lässt die junge Frau nicht zum König! Er bleibt in seiner Ritterrüstung hart, er ist schließlich treuer Soldat, in einem DEFA-Märchenfilm. Erst der zweite Wachmann bringt ihn zum Innehalten, mit der Frage: »Willst du dich etwa einer Fee in den Weg stellen?« Da knurrt der treue Soldat: »Nee.« Und guckt verdutzt, tief naiv, aber auch ein Quentchen schelmisch, mit großen Augen.
Es ist, als schaue da in einer (winzigen) Chargenrolle doch irgendwie einiges von Thomas Langhoff durch: das Auftrumpfende, das immer das Einlenkende blieb; das Entschiedene, das nie das Weiche, Jungsspielerische verdrängen konnte. Nicht wollte. »Aus die Maus!«, sagte er gern, das klang wie ein Basta, war es auch, aber die Maus in dem Satz wieselte doch heiter weiter ...
Noch ein Ausschnitt aus einem Langhoff-Filmporträt, Jahre später: Diskussion mit dem Schauspieler Kurt Böwe während einer Probe; der will eine bestimmte Art Schuhe, und Regisseur Langhoff wird jetzt ganz philosophisch: »Das ist das Problem - dass des Schauspielers Existenz bei den Schuhen anfängt.« Lachen. Wie oft bei dieser Trauerfeier für den am 18. Februar im Alter von 73 Jahren verstorbenen Regisseur Thomas Langhoff. Auf der Bühne des Berliner Ensembles Freunde, Gefährten, auch Bruder Matthias, und Schauspieler des BE, die in seinen Inszenierungen spielten. In der ersten Reihe Inge Keller, die später, in einem Filmausschnitt, vom »südländischen Temperament« Langhoffs, vom »Impressionisten« redet.
Letzter Gruß, vielstimmig, und in jedem einzelnen kleinen Auftritt doch Gruß ans eigene Leben. Denn sie waren doch alle beteiligt! Waren, sich dem Gauklertum hingebend, in ihrem eigenen Element. Waren Teil der Art, mit der dieser Regisseur durch Tragödien - flanierte. Menschentrümmern verschaffte er so viel Luft und Leben, wie in deren schlimmer Existenz überhaupt nur möglich war. Ohne szenische Kraftakte.
Ich weiß noch: Er zitierte und beschwor auf Proben zum »Lear« am Deutschen Theater wochenlang Peter Brook, der immer wieder gern den Mythos Shakespeare übergroß aufbaue, um dann zu begründen, dass man ihn, spielend, nur zipfelweise »ergreifen« könne. Der Zipfel, den Langhoff griff, glich meist den Ecken einer Tischdecke im Wohnzimmer oder einem Bett-Tuch im Schlafzimmer; er führte auch Shakespeare auf die Urzelle allen Glücks und Unglücks zurück, die Familie. Vater, Kinder, böse Onkels, blöde Tanten, debile Großväter, verfeindete Brüder. Was will man mehr, um Menschheit zu erklären. Private Daten als Codes für die Kriege der Welt. Die unscheinbaren Situationen des Alltags, den die Gleichgültigen banal nennen, konnten bei ihm in wenigen Momenten eingreifender werden als eine ganze Festwoche der Metaphysik.
Er inszenierte Dichter so, dass man, wenn man gerade wieder alles durch die verschmutzten Brillengläser der Gewohnheit sieht, plötzlich auf eine Stimmung aufmerksam wird. Auf einen Anruf, den man nicht gleich begreift, dem man aber folgt. Theater konnte so erlebt werden, dass man danach die Gleichgültigkeit für ein paar Atemzüge überwand, eine Einsicht um eine Nuance bereichert sah, eine Freude um ein Gran vermehrt wusste und einen Schmerz um eine Schwingung heftiger empfand. Menschlichkeit, so Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz, »die zu keiner Zeit einer ideologischen Herleitung bedurfte«.
Davon erzählten die Gesichter auf dieser Trauerfeier, in Filmsequenzen oder vorm Mikrofon. Christian Grashof verlas Grüße von Fred Düren aus Jerusalem, in denen Gott die Hauptrolle spielt. David Bennent las Hölderlin: Abschied? »Alles Getrennte findet sich wieder.« Die schöne feine Sibylle Canonica aus München trug - Bergschuhe, in Erinnerung an eine über neunstündige Tour übers Tennengebirge bei Salzburg; am Ende ein besorgniserregend erschöpfter Langhoff: zu viel erzählt unterwegs, zu wenig getrunken. Robert Gallinowski, der Kraftvolle, und Jürgen Holtz, der kühl Funkelnde, lasen aus Tagebüchern des Regisseurs (»Gosch und ich gelten als Regietalente, wir sind aber nur Scharlatane«). Dagmar Manzel sang vom »kleinen bisschen Glück, irgendwo«. Und meinte doch das große Glück des Spiels - bei jenem Regisseur, der sie für die Bühne entdeckt hat.
Alexander Lang erinnerte daran, wie einst das Unübliche zufällig zustande kam, zwei Berliner Inszenierungen des gleichen Stücks zur gleichen Zeit (er hatte den »Sommernachtstraum« am DT erarbeitet, Langhoff am Gorki-Theater): Man erfand für die kontrollfreudige Kulturpolitik den Begriff vom bewusst angestrebten »Interpretationsvergleich«. Und Jürgen Flimm staunt noch heute über sehr spezielle Kräfte des Regisseurs: »Unglaublich, der schaffte es, Schauspieler über eine steile Schräge - zu quasseln, der schob die mit Worten hoch, als wären es Hände!«
Regisseur und Intendant Dieter Dorn aus München: »Um meinen Träumen treu zu bleiben, ging ich damals in den Westen. Um seinen Träumen treu zu bleiben, blieb Thomas in der DDR. Wir wurden Freunde. Wir haben unsere Träume zusammengelegt.« BE-Direktor Claus Peymann wird es politisch direkt sagen: »Er stand für eine Ost-West-Vereinigung ohne Annektion«.
Zwei Stunden, in denen oft die Worte »treu«, »menschlich« fielen; Akademiepräsident Klaus Staeck sprach von »berührender Verlässlichkeit«, Dieter Mann von einem Regisseur, der »zärtlich« zu seinen Schauspielern war. Jutta Hoffmann, die »Stella« im DDR-Fernsehfilm damals, sandte einen kurzen Brief: Nach der Biermann-Ausbürgerung sei ihr gesagt worden, Partei und Staat würden sich wie Eltern verhalten - die vergessen einen Fehltritt ihrer Kinder nie. Just so kam es, und Thomas Langhoff habe lange kämpfen müssen, damit sie die Stella spielen konnte, und er kämpfte erfolgreich, »gegen alle Behauptungen plötzlich, die Hoffmann, die kann doch überhaupt nicht spielen«. Auch dies: letzte, aber nötige Grüße aus einer vergangenen Welt.
Thomas Ostermeier dankte dem einstigen DT-Intendanten für die tolle Spielstätte »Baracke« hatte. Förderung mit unwillkommener Konsequenz: So, wie Langhoff Heiner Müller ans BE, Frank Castorf an die Volksbühne verloren hatte, so verlor er Ostermeier an den Ruhm der Schaubühne. Gert Voss spielte Monologpartikel aus Langhoffs Wiener Inszenierung »Elisabeth II.« von Thomas Bernhard - grandioser Kunstbetriebszynismus und an diesem Vormittag ein Heiterkeitshöhepunkt neben Cornelia Froboess‘ parodistisch genauer Kopie einer Rede, die Langhoff an seine Schauspieler hielt.
Trauer, durchbrochen von Langhoffs Lieblingsmusiken, Rossini, Johnny Cash. Komödianten verabschieden einander anders als andere Leute: komödiantischer, noch im Mit-Leid. Aber keine Heiterkeit kann den Gedanken vertreiben: Der Tod kommt als verfluchenswerter Feind zu uns. Da hilft kein Gruß aus Jerusalem, kein Hölderlin-Vers. Claus Peymann erzählt nicht nur von Langhoffs Vogelstimmen-Kenntnissen, seiner Fußball-Leidenschaft für Union Berlin sowie von seiner beneidenswerten Abstinenz gegenüber Theaterkritiken - er erzählt aufgewühlt von jenem Abend des 18. Februar. Langhoffs »Kirschgarten« wurde am BE gespielt; er als Intendant verkündete, in den Schlussapplaus hinein, den Tod des Regisseurs. Ein Schreckenslaut im Publikum und das Weinen der Spieler auf der Bühne, diese dem Gewerbe innewohnende Gleichzeitigkeit von Öffentlichem und gleichsam Familiärem hätten sich da in einem »seltsam erschütternden Moment« entladen.
Erschütternd auch: Ursula Werner, Swetlana Schönfeld, Monika Lennartz: die Schluss-Szene der »Drei Schwestern«. Wie vor Jahrzehnten am Gorki-Theater. Zum Weinen schön. Drei Frauen, in spurengrabende Zeit verwickelt, und doch drei ewig Junge in sehr altem Leid: Leben! Leben! Leben!
Viele verabschiedeten sich von Langhoff mit den Worten: Leb wohl! Das gibt man Lebenden auf den Weg. Aber, wie Klaus Bachler (vor Jahren Wiens Burgdirektor) sagte: Wir wissen alles über den Tod, aber im Abschied von einem uns lieben Menschen ist es, als lernten wir den Tod jetzt erst kennen. Thomas Langhoff: Leb wohl! Als existiere das Unabänderliche nicht. Es gibt eine Ignoranz des Tatsächlichen, die erhebt.
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