Handgreifliche Geschichte

Kolumne von Jürgen Reents

  • Jürgen Reents
  • Lesedauer: 3 Min.
Jürgen Reents: nd-Chefredakteur
Jürgen Reents: nd-Chefredakteur

Niemand muss sich Sorgen machen, dass in zwei Wochen etwas anderes verlautbart wird als: Der neue Bundespräsident heißt Joachim Gauck. Und es sorgt sich auch kaum jemand, außer ein paar notorisch nervösen Leuten, die 24 Stunden täglich auf der Lauer liegen, falls von links doch ein Gespenst um die Ecke biegt. In der »Welt« nannte Henryk M. Broder die Vorstellung, Beate Klarsfeld könne ins Schloss Bellevue einziehen, »eine Horrorvision«.

Nein, die Kandidatur von Beate Klarsfeld ist chancenlos, also auch völlig ungefährlich - was das Amt betrifft. Man kann getrost davon ausgehen, dass sie das weiß, nicht weniger jene, die sie nominiert haben. Doch woher rührt der Eifer, mit dem ihre Kandidatur mancherorts ins absurd Lächerliche geschrieben wird, mit dem der 73-Jährigen eine Geltungssucht angeheftet, sie als jemand koloriert wird, der es nur um längst vergangene Zeiten gehe? Der gerade ein knappes Jahr jüngere Joachim Gauck, »schon lange der Präsident der Herzen« (Bild-Zeitung) und eine Würde in Person zweifellos auch, wenn er über sich selbst spricht, sei dagegen »nicht Geschichte, sondern Zukunft«, wie in der WAZ zu lesen war.

Geschichte, Zukunft: Die Kandidatur von Beate Klarsfeld verweist darauf, dass sie kein »nicht, sondern« trennt, sondern ein »und« verbindet, die Gegenwart. Es ist gerade zwei Jahre her, seit die erste offiziell beauftragte Studie vorliegt, die die Beteiligung des diplomatischen Dienstes am Holocaust dokumentiert und die personellen Kontinuitäten zwischen Hitlers Diplomaten und dem Auswärtigen Amt bestätigt. Eine vergleichbare Aufarbeitung beim BND steht noch an den Startblöcken, bei der Polizei und anderswo hat sie nicht einmal das Wartezimmer erreicht. Man wird nicht müde, die LINKE zur (selbst)kritischen Auseinandersetzung mit der vor über 20 Jahren beendeten DDR-Geschichte zu ermahnen und jährlich zu wiederholen, dass der Mauerbau schweres Unrecht bewirkte. Nun, die LINKE tut gut daran, sich dieser Auseinandersetzung weiter zu stellen. Doch haben wir noch länger als ein halbes Jahrhundert zu warten, bis Union und FDP (auch SPD: Karl Schiller) mit Klarnamen einräumen: Es war ein Fehler, frühere SA- und NSDAP-Mitglieder zum Bundespräsidenten, Bundeskanzler, zu Ministerpräsidenten, Bundes- und Landesministern und Staatssekretären zu machen?

Man muss ja fragen, warum dies nicht geschieht. Kiesinger, Carstens, Höcherl, Bucher, Stücklen, Filbinger … Niemand von ihnen, die vor der Befreiung vom Faschismus in einem politisch zurechnungsfähigen Alter waren, lebt mehr. Geschützt werden nicht mehr Personen, sondern eine Tradition, eine politisch zwielichtige Kultur, die strukturell und mental dafür gesorgt hat, dass der Blick nach rechts in den Etagen der Macht so dämmrig blieb. Beate Klarsfeld hat die Fortwirkungen der deutschen Geschichte nicht nur im Fall Kiesinger handgreiflich gemacht. Ihre Kandidatur erinnert daran, dass die gesellschaftliche Debatte über das »und«, die geschichtsbegründete wie zukunftsbildende Gegenwart, auch im Westen nicht erledigt ist. Das ist die Beunruhigung, die wir immerhin in den nächsten zwei Wochen erleben dürfen - und die eine echte Chance ihrer Kandidatur ist.

Einige beunruhigt auch, dass Klarsfeld keine lupenreine Linke ist. Ja, sie teilt dies mit vielen, mit denen man zusammenlebt, hier und da zusammenwirkt oder streitet. Will jemand auf die plurale Gesellschaft verzichten?

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