Die Unfähigkeit zur Versöhnung

Deutschlands einstige Feinde besaßen die Mentalität der heutigen Stasi-Jäger nicht - glücklicherweise

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 8 Min.
Mit ihrem Buch »Die Unfähigkeit zu trauern«, schrieben Alexander und Margarete Mitscherlich in den 60er Jahren einen Bestseller. Bis heute hält in Deutschland die Bewunderung für eine These an, deren Unsinnigkeit mit den Händen zu greifen ist, und die in einem merkwürdig großen Abstand zur geschichtlichen Wirklichkeit steht. Denn in dieser Wirklichkeit litt die deutsche Nachkriegsgesellschaft nicht eine einzige Sekunde lang an einer »Unfähigkeit zu trauern«. Im Westen offen und im Osten - gezwungenermaßen - heimlich, gaben die Deutschen sich schier endlos der Trauer hin - der Trauer jedenfalls über das eigene erlittene Leid. Und wie sie das taten. In völliger Verkennung der Tatsachen also ging dieser Titel am eigentlichen Problem vorbei, denn es war in Deutschland keine Unfähigkeit, sondern vielmehr eine »Unwilligkeit zu trauern« das große Problem - die Unwilligkeit nämlich, das Leid zu betrauern, das Deutsche anderen Völkern zugefügt haben. Dort lagen Defizite, die bis heute nachwirken.
Unser Autor Matthias Krauß, geboren 1960 in Hennigsdorf, ist Journalist in Brandenburg. Von ihm erschienene Bücher: »Der Wunderstaat - richtige Geschichten aus einem falschen Leben«, »Das Mädchen für alles - Angela Merkel, ein Annäherungsversuch«, »Völkermord statt Holocaust - Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR«, »Die Partei hatte manchmal Recht« - ein Rückblick der ungewohnten Art
Unser Autor Matthias Krauß, geboren 1960 in Hennigsdorf, ist Journalist in Brandenburg. Von ihm erschienene Bücher: »Der Wunderstaat - richtige Geschichten aus einem falschen Leben«, »Das Mädchen für alles - Angela Merkel, ein Annäherungsversuch«, »Völkermord statt Holocaust - Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR«, »Die Partei hatte manchmal Recht« - ein Rückblick der ungewohnten Art

Wer der seit 22 Jahren betriebenen Abrechnung mit der DDR und ihren Anhängern beiwohnt, der gewinnt den Eindruck, dass von einer anderen Unfähigkeit die Rede sein müsste, von der »Unfähigkeit zur Versöhnung« nämlich. Mehrheitsmeinung in Politik, Medien und Gesellschaft ist, dass an dieser Stelle die Versöhnung zu verweigern ist. Seit über zwei Jahrzehnten steht die DDR Tag für Tag am Pranger, und die 50. Wiederkehr des Tages, an dem der Mauerbau begann, hat dieses kampagnenhafte Unternehmen ins Aberwitzige gesteigert.

In Brandenburg benutzen die Oppositionsparteien CDU, FDP und Grüne ihre politischen Rechte, um alle öffentlichen Bereiche dem Verdacht auszusetzen, dort würden finster Stasi-Seilschaften nach wie vor ihr Unwesen treiben. Je geringer die dafür festgestellte Substanz - beispielsweise bei der erneuten Überprüfung von Polizisten - ist, umso zwanghafter das Schüren einer Atmosphäre der Verunsicherung. Ihr Kennzeichen ist die bewusst eingesetzte Unklarheit, verbunden mit der Selbstverständlichkeit, Angeschuldigten keinerlei Schutz zuzugestehen.

Verbrecher haben in Deutschland Rechte. Menschen, die man der Stasi-Mitarbeit beschuldigt, besitzen diese Rechte nicht. Die Unschuldsvermutung bleibt regelmäßig auf der Strecke, Beschuldigung ist hier mit moralischer Hinrichtung gleichzusetzen. Diese Atmosphäre nimmt hier und da schon den Charakter einer Pogromstimmung an. Sie hat im September mit dem Selbstmord einer anonym beschuldigten Frau ihren grausigen Höhepunkt gefunden.

Haben die Deutschen keine anderen Themen?

Dieser Stil drängt den Eindruck auf, dass die DDR das Schrecklichste gewesen sein muss, was die deutsche Geschichte zu bieten hat. Eine österreichische Studentin, die mich 2011 zum Thema Übergang von DDR-Journalisten in die neue Zeit befragt hat und sich drei Wochen in Berlin aufhielt, stand fassungslos vor diesem ideologischen Großmanöver. »Haben die Deutschen keine anderen Themen?«

Offenbar nicht. Während die westdeutsche Demokratie den faschistischen Judenwürgern schon Wochen, wenn nicht Tage nach der Kapitulation die Hand zur Versöhnung reichte, wird sie den DDR-Anhängern auch nach Jahrzehnten verweigert. Versöhnung ist im Fall DDR völlig ausgeschlossen, das Wort ist nicht gestattet, der Gedanke an Versöhnung pervers, und wer ihn äußert ist ein Hassobjekt. Das bekamen Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck und Mecklenburg-Vorpommerns Regierungschef Erwin Sellering (beide SPD) zu spüren, die in der Vergangenheit bemüht waren, sich der gradlinigen Einseitigkeit und dem Schwarz-Weiß-Schema in der Betrachtung der jüngsten Geschichte entgegenzustemmen.

Handelt es sich hier aber wirklich um eine Unfähigkeit zu vergeben? Eher nicht. Vielmehr: Wie beim Mitscherlich-Beispiel ist es auch hier die Unwilligkeit, die von der Versöhnung abhält. Bemerkenswert ist das vor allem, weil das in einem bezeichnenden Widerspruch zur sonstigen Praxis in Deutschland steht. Beide deutsche Staaten waren nach Kriegsende mit Erfolg um Versöhnung und Aussöhnung bemüht - die Bundesrepublik vor allem mit Frankreich, mit Israel, später mit Polen und mit Russland. Bedingungslos konnte das nicht sein, und das hätte niemals funktioniert, wenn Deutschlands einstige Feinde ihm endlos seine Verbrechen, die Opfer und vor allem die Todesopfer vorgehalten und vorgerechnet hätten. Das heißt, es hätte niemals und unter keinen Umständen eine Versöhnung gegeben, wenn die einstigen Opfer sich verhalten hätten, wie die politisch-professionellen Abrechner heute zur DDR und einem Teil der Ostdeutschen. Bedingung für die Nachkriegsversöhnung war, dass die Geschädigten einverstanden waren, die Streitaxt zu begraben. Bedingung dafür war ferner, rhetorisch zurückzuschalten, Trauer und Wut nicht freien Lauf zu lassen.

Versöhnung zunächst - wie würdig das klingt. Wie menschlich. Versöhnung ist aber mehr, das ist nicht nur Großzügigkeit, sondern auch die Einsicht, dass auf Dauer an ihr nichts vorbeiführt. Sie ist auch Realpolitik. Wie hätten sich Japaner und Amerikaner sonst jemals wieder einander ausstehen können? Oder wie könnte ein Vietnamese den USA jemals verzeihen? Angesichts des unfassbaren Blutzolls, der in jahre- oder jahrzehntelangem militärischen und ideologischem Kampf erhoben wurde. Ohne Versöhnung hätte sich die Menschheit schon längst - wie Rumpelstilzchen - selbst mittendurch gerissen.

Welche Glaubwürdigkeit kann vor diesem Hintergrund die Behauptung beanspruchen, man schulde den DDR-Opfern dieses Vorgehen der Gnadenlosigkeit gegen MfS-Mitarbeiter, diese endlose rachsüchtige Abrechnung? Es gibt keine. Der Unterschied ist der, dass die im DDR-Auftrag Handelnden heute keine Macht darstellen und man nicht gezwungen ist, von ihnen abzulassen. So war es auch schon in der Vergangenheit: In Deutschland steigert sich die Aggressivität an der Wahrnehmung, dass der Gegner schwach ist.

Bei der Aussöhnung, die Deutschland (West) mit Frankreich oder den Vereinigten Staaten vorangetrieben hat, durfte eines keine Rolle spielen: die furchtbaren Verbrechen, welche beide Nationen in dieser Zeit der Aussöhnung mit den Deutschen begangen haben. Welche Untaten die US-Amerikaner seit dem Zweiten Weltkrieg verübten, und wie viele Millionen Menschen die Freiheit der Amerikaner mit Unfreiheit, Leid und Tod bezahlt haben, ist dem einen oder anderen noch gegenwärtig. Niemals sind diese Dinge im Versöhnungsprozess ein Problem gewesen. Und wie steht es um den Traditionsfreund Frankreich? Kaum präsent ist, dass zwischen 1945 und 1956 Frankreich beim verbrecherischen Versuch, seine Indochina-Kolonie wieder zu installieren, dort 1,7 Millionen um ihre nationale Eigenständigkeit kämpfende Menschen umgebracht hat. Beim gleichen und nicht minder verbrecherischen Versuch in Algerien (bis 1962) betrug die Opferzahl zwischen 800 000 und 1,2 Millionen. In Madagaskar waren es ca. 80 000.

Gemetzel störte Aussöhnung nicht

Massenermordung von Gefangenen, Massenfolterungen, Vergewaltigungen - kein Verbrechen hat bei diesen Kriegen gefehlt. Niemand im heutigen Frankreich - von Rechtsextremen vielleicht abgesehen - gesteht diesen Kolonialmassakern noch die geringste Berechtigung zu. Als sich die deutsche Bundesrepublik mit Frankreich aussöhnte, war die Grande Nation eine metzelnde Nation. Und doch störte das die Aussöhnung nicht. Und welcher, wenn nicht dieser Gedanke stand bei diesem Unternehmen Pate: »Wir haben bis 1945 Verbrechen begangen - ihr begeht sie heute. Und eine Krähe hackt bekanntlich der andern kein Auge aus.«

Dagegen ist es im Falle der DDR kein Argument, dass doch die Auseinandersetzung mit ihr und in ihr - verglichen mit den eigentlichen und grundlegenden der damaligen Welt - opferarm und mehr oder weniger friedlich ausgetragen worden ist. Um diesen ins Auge springenden und gleichzeitig schreienden Widerspruch zu bemänteln, bedienen sich die Abrechner um Joachim Gauck, Hubertus Knabe, Marianne Birthler, Roland Jahn, Rainer Eppelmann oder Klaus Schroeder eines billigen, aber offenbar recht wirkungsvollen Tricks. Die 136 Mauertoten - und sie waren zweifellos Opfer der DDR - werden im geschichtlichen Rückblick von ihnen und den dominierenden Medien behandelt, als wären es Millionen. Und die Millionen Opfer des Westens bekommen im Gegenzug eine Bedeutung, als wären es 136.

Während beim äußeren Feind tausendjährige Gegnerschaft und unfassbar gewaltige Verbrechen kein Hinderungsrund für Versöhnung gewesen sind, gilt das im Inneren des Landes nicht. Und die Tatsache, dass die Konflikte inzwischen eine Generation zurückliegen, ist eher Anlass, den Schwung bei der Abrechnung noch zunehmen zu lassen.

Irrational ist dieser Vorgang auch aus anderen Gründen. Denn bei den zweifellos aufzählbaren negativen oder auch verbrecherischen Seiten der DDR hielten sich ihre Vergehen noch in einem Rahmen, der sie durchaus positiv heraushebt aus der Gruppe der ehedem sozialistischen Staaten. Die DDR hatte keine Bürgerkriege wie Ungarn, Polen, Sowjetrussland oder die Tschechoslowakei, keine antijüdischen Schauprozesse, kein Militäreinsätze im Ausland wie die anderen »Bruderländer«. Und doch klebt das Verdikt »Unrechtsstaat« einzig an ihr wie das Pech an der bekannten Marie. Im Berliner Wahlkampf hat der Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) erneut die DDR bebend einen »Unrechtsstaat« genannt. Diese Behauptung ist inzwischen Gemeingut, obwohl kein dazu befugtes internationales Gremium die DDR jemals als »Unrechtsstaat« eingestuft hat.

Aber der Vorwurf entzieht sich nicht der Nachprüfbarkeit, es hat nach 1990 den Prozess der juristischen Aufarbeitung von DDR-Unrecht gegeben. Zehn Jahre lang hatten sich in diesem Rahmen Richter aus Westdeutschland einstige DDR-Bürger, vor allem Funktionäre und Amtsträger, vorgeknöpft. Und in der Tat, die Justiz ist fündig geworden. Allerdings auf eine sehr ernüchternde Weise. Rund 100 000 Menschen wurden in dieser Aufarbeitungswelle beschuldigt, bedroht, eingeschüchtert. Das Ergebnis war so erhellend wie trocken. Etwa ein Prozent von ihnen wurde tatsächlich verurteilt. Man kann es drehen und wenden wie man will - angesichts dieser Bilanz ist die Bezeichnung »Unrechtsstaat« für die DDR nicht gerechtfertigt.

Verfolgungen auf rein moralischer Grundlage

Weshalb wurde nicht mit dem Abschluss der juristischen Aufarbeitung von DDR-Unrecht - eines flächendeckenden, tiefgreifenden, aufwendigen Prozesses - die Verfolgungen ein- und der Landesfrieden hergestellt? Was danach noch blieb und bis heute bleibt, sind Verfolgungen, die auf rein moralischer und keineswegs juristischer Grundlage erfolgen.

In wiefern aber kann in einem Rechtsstaat moralische Verurteilung Grundlage von Verfolgung und Berufsverbot sein, und wie kann es sein, dass dieser fragwürdigste aller Vorgänge darüber hinaus endlos betrieben wird? Straftaten verjähren nach deutschem Recht fast alle irgendwann. Der Makel, den Geheimdienst seines Vaterlandes unterstützt zu haben, verjährt für einen DDR-Bürger niemals, obwohl er sich damit ein Recht genommen hat, was die Staatsbürger aller Nationen der Welt besitzen und was ihnen das deutsche Recht sogar zugestehen muss. Niemand hat bislang behauptet, dass es sich bei der Verpflichtung für die Zusammenarbeit mit dem MfS um eine Straftat gehandelt hat. Warum finden sich keine Juristen, die hier nach der rechtsstaatlichen Substanz fragen? Denn diese endlose Verweigerung von Begnadigung, von Barmherzigkeit, von rechtsstaatlicher Lauterkeit trägt das Gesicht der Barbarei.

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