Preußen to go
Als Friedrich II. aufhörte, Identitätsstifter zu sein
Stellen wir uns eine Stadt vor. Stellen wir uns vor, seit ihr erster Stein gesetzt war, sei sie nie dem Krieg begegnet, nie gebrandschatzt, zerbombt, zerstört worden. Stellen wir uns vor, dass ihre Bürger, mit den Mitteln und dem Geschmack ihrer Zeit, Hütten, Häuser, Paläste errichteten, von denen nur einige altersschwache irgendwann zusammenfielen, während andere Zuwendung, Schutz erfuhren. Stellen wir uns weiterhin vor, diese Stadt hätte ihren Idolen Denkmäler gesetzt und Straßen gewidmet, und keine spätere Enttäuschung, keine späteren Machthaber hätten die Erinnerung geschleift. Was wäre das für eine Stadt! Die Zeugnis von sich ablegte. Die auf Schritt und Tritt von ihren Talenten, Irrtümern, Verbrechen erzählte. Ein begehbares Geschichtsbuch.
Eine solche Stadt gibt es nicht. Sie wäre nicht von dieser Welt. Manchmal müssen Städte schweigen. Weil erst dann, wenn die Verbrechen allmählich ins Vergessen gleiten, also Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte später, Mitarbeiter von Museen weiße Handschuhe überstreifen, um selten gewordene Sachzeugen zu bewahren und auszustellen. Weil die Hände derer, die Kriege, Katastrophen über diese Stadt brachten, sie duldeten oder unterstützten, eben nicht weiß, also nicht unschuldig sind. Weil die Zeugen der Schuld verschwinden sollen, weil neue Verhältnisse die Erinnerung ausmerzen müssen, um die Bürger auf Zukunft zu konditionieren.
Das Wort »Erinnerungslandschaften«: Es meint die Landschaften, die uns umgeben, und jene, die in uns sind. Berlin als öffentlicher Raum lag 1945 weitgehend in Trümmern. Man hatte wahrhaftig andere Sorgen, als sich um Erinnerung zu kümmern. Jedoch, die Zeit dafür kam bald. Die Zeit dafür kommt immer bald, ob die von den Sockeln zu Stürzenden nun Hitler, Stalin oder Lenin, Ulbricht oder Honecker heißen. Bald nach 1945 besann man sich also, »dass sich die Deutschen doch inmitten ihrer zum großen Teil zerstörten Städte noch immer in einer Erinnerungslandschaft befanden, die nach zwölf Jahren Diktatur über weite Strecken tief nationalsozialistisch eingefärbt war. Und so gab es bald auch in Berlin erste Anregungen für eine ›Entschlackung‹ des Denkmalbestandes, wobei zunächst die originär nationalsozialistischen Schöpfungen in den Blick gerieten« (*). Sodann freilich auch ein Mann, ein Monarch, der längst im Sarkophag verschimmelte: Friedrich der Große, wie ihn die Nationalsozialisten genannt hatten und wie man ihn später auch in der jungen Bundesrepublik titulierte, Friedrich II., wie er im Sprachgebrauch der jungen DDR heißen sollte.
Im jetzigen zum Herzballon aufgepumpten Friedrich-Gedenk- jahr featurete die Deutsche Presse-Agentur über die neu entflammte Friedrich-Verehrung im Oderbruch: »Fritz, der Klassenfeind; DDR tat sich mit Preußen schwer.« Stimmt. Zumindest für die Anfangsjahre der DDR trifft das zu. Und damals war das ja auch kein Wunder. Was an der Schlagzeile verwundert beziehungsweise nicht mehr verwundert, ist erstens, dass da der DDR etwas um die Ohren gehauen wird, wo es nichts um die Ohren zu hauen gibt, und dass zweitens mit keinem Wort erwähnt wird, wie schwer sich auch die Bundesrepublik in ihren Anfangsjahren mit dem gesamtdeutschen Erbe Friedrich tat: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollte ihn niemand mehr - hüben wie drüben. Die Nationalsozialisten hatten einfach zu viel Schindluder mit ihm getrieben, indem sie eine schnurgerade Linie von ihm zu sich selbst gezogen hatten. Der Mann war diskreditiert! Zumal das auch die alliierten Sieger, der Nazi-Propa- ganda nicht unkundig, so sahen. Am 25. Februar 1947 hatten sie »den Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden« als »Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland« aufgelöst. Wenn sie den deutschen Militarismus verurteilten, dann verurteilten sie mit ihm Friedrich als dessen Wegbereiter. Man konnte und kann es ihnen nicht verdenken.
Wie die Dinge damals lagen, schien es für Ost und West geboten, auf Distanz zu Friedrich zu gehen. Auch in den westlichen Besatzungszonen stand man, zumindest offiziell, dem Preußenkönig kritisch gegenüber, was in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik im Großen und Ganzen so blieb. Allerdings - und hier zeichnet sich ein Unterschied zur DDR ab - gab es einen öffentlichen Diskurs, und die Ablehnung Friedrichs speiste sich aus den unterschiedlichsten Motiven: Die katholische Kirche beispielsweise sah sich ermutigt, mit dem protestantischen Preußen ein Hühnchen zu rupfen. So kann man sagen, der Versuch, Friedrichs historische Persönlichkeit differenziert zu bewerten, sei durchaus unternommen worden. Später lief der Diskurs auf die richtige These hinaus, Preußen sei eben doch ganz anders gewesen als der NS-Staat. Als falsch erwies sich allerdings die Hoffnung, an das so ganz andere, vermeintlich gute Preußen anknüpfen zu können und die Bewahrung dieser Traditionslinie zur Schicksalsfrage für das Fortbestehen des nun geteilten deutschen Volkes als Nation machen zu wollen. Als Rudolf Augstein 1968 sein Buch »Preußens Friedrich und die Deutschen« veröffentlichte, attackierte er diese Geschichtssicht scharf und nannte es eine »Kontinuität des Irrtums«, dass die Deutschen sich so beharrlich an Friedrich orientierten.
Anders in der DDR, auf deren Territorium sich der größte Teil des einstigen Staates Preußen befand. Dort folgte man schon früh dem Geschichtsbild, das der Schriftsteller und spätere DDR-Kulturminister Alexander Abusch in seinem noch 1945 in der Emigration fertiggestellten Buch »Der Irrweg einer Nation« von Friedrich gezeichnet hatte - das eines Lehrmeisters Wilhelms II. und Hitlers. Wie gesagt, diese Sicht drängte sich auf, und sie wäre wohl damals auch nicht mit dem Hinweis zu widerlegen gewesen, dass der Preuße ja nicht persönlich hinter dem Pult gestanden und die Herren darin unterwiesen hatte, die Welt in Flammen zu setzen und letzthin industriemäßig Juden zu vernichten. Dass es vielmehr diesen Herren anzulasten war, dass sie Friedrich als genialen Heerführer - bekanntermaßen ein Mythos - auf ihre Schilde gehoben hatten. Und dass diejenigen, die ihnen bereitwillig gefolgt waren (preußischer Untertanengeist?), Mitverantwortung für die Weltbrände trugen. Wer wollte das damals wissen, wem sollte das nützen? Sündenböcke - Friedrich und Preußen - waren zumindest nicht unwillkommen. 1950 bereinigte die DDR ihre Erinnerungslandschaft auch in Sachen Preußen und Friedrich, indem sie mit dem Abriss des stark zerstörten Berliner Stadtschlosses begann. Noch im selben Jahr wurde Christian Daniel Rauchs Reiterstandbild Friedrichs II. Unter den Linden in den Park von Sanssouci verbracht und dort, in Einzelteile zerlegt, sozusagen versteckt. Just im Jahr des Mauerbaus 1961 hatte man dem Denkmal dann einen Platz im Hippodrom des Parks zugebilligt, wo es, weitgehend unbeachtet, bis 1980 ein Schattendasein fristete.
Dass Friedrich dann auch in der DDR noch einmal wiederbelebt wurde, erscheint aus heutiger Sicht schier unglaublich. War das alte Schlachtross nicht im Laufe der Jahrhunderte schon so oft in die Knie gegangen, dass man es für dienstuntauglich gehalten hatte? Doch ging es nicht mehr um Waffengänge, die man mit ihm ausfechten wollte, dieses Mal stellte man ihn aufs Ost-West-Schach- brett, und es war ein wenig kindisch: Dein König? Denkste, mein König! 1979 hatte die DDR-Historikerin Ingrid Mittenzwei ihre auch in der Bundesrepublik viel beachtete Biografie »Friedrich II. von Preußen« vorgelegt - und damit in der DDR ein Umdenken ermöglicht. Auch dort entdeckte man an dem Alten nun Leistungen, an die sich anknüpfen ließe. Natürlich war dies keine Huldigung der historischen Figur, vielmehr der Versuch, in der DDR ein sozialistisches Nationalbewusstsein zu etablieren. Und so kehrte Rauchs Reiterstandbild 1980 zurück unter die Berliner Linden.
Euer König? Unser König! Die Bundesrepublikaner zogen nach. Ende der 70er Jahren waren sie wieder begeisterte Friedrich-Groupies. Im Berliner Gropius Bau wurde eine große Preußenausstellung gezeigt, die den Diskurs über die sogenannten preußischen Tugenden fortsetzte. »Der eigentliche Wert Preußens liegt für uns heute nicht in seiner politischen Geschichte, sondern in den Eigenschaften der Menschen, die als Preußen in Preußen lebten«, sagte der damalige Regierende Bürgermeister Westberlins, Richard von Weizsäcker, zur Ausstellungseröffnung. Welche Eigenschaften das sein sollten und welchen Wert ihnen beizumessen war, darüber sollte im Weiteren noch heftig gestritten werden. Oskar Lafontaine, als Ministerpräsident des Saarlandes, gab der Debatte später in einem anderen Zusammenhang den Satz bei: »Mit solchen Tugenden hätte ein Konzentrationslager geleitet werden können.« Wohl wahr. Aber ebenso waren Eigenschaften wie Pflichterfüllung, Fleiß, Ordnung und Disziplin dazu angetan, ein Land ökonomisch voranzubringen. Wohl bemerkt: ökonomisch, nicht sozial. Und schon gar keine Ländergemeinschaft, wie sie heute Europa darstellt.
Als Rauchs Friedrich-Denkmal, begleitet von einiger Aufgeregtheit, 1980 erneut seinen Platz in der DDR-Hauptstadt einnahm, erschloss sich meiner in der DDR geborenen und aufgewachsenen Generation das Spektakuläre dieses Aktes nur schwer. Friedrich, wer war das überhaupt? Wir beteten zu anderen Göttern. Er hatte für uns keine Rolle gespielt, wir hatten ihn also nicht vermisst. Was ich bis heute nicht als Manko empfinde: Es ließ sich ganz gut ohne ihn leben. Familienausflüge nach Sanssouci, in Filzlatschen über den Marmor schlittern, verschwenderisches Rokoko bestaunen - das ja. Doch als Hausherr kein Friedrich, nur ein König, ein Ausbeuter, der »abgeschafft« war. Gutes Gefühl.
War Preußen an meiner Generation tatsächlich vorbeigegangen? Rückblickend muss ich das bezweifeln: Peußen stand zwar auf Vielem nicht drauf, war aber drin. Die Militärparaden, der Stechschritt. Die Kopfnoten in den Schulzeugnissen: Disziplin, Ordnung, Fleiß, Mitarbeit, addiert zum Gesamtverhalten. Warum nicht auch Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Achtung vor dem Anderen, Neugier, Kreativität? Nationale Tugenden sind nicht im Gencode angelegt, sondern auch ein Produkt von Erziehung. Nein, Friedrich II. taugt heute in Deutschland nicht mehr als Stifter von Identität.
Wenn ich mich heute auf Friedrich einlasse, dann ist es ein bisschen so, als würde ich einen Kostümfilm ansehen. Und wenn ich durch Berlin spaziere, dann entdecke ich seine Spuren in kulturhistorischen Bauten, Straßennamen und eben auch in jenem Denkmal Unter den Linden. Im Rucksack Friedrich aus Schokolade - Preußen to go.
*Tillmann Bendikowski: Friedrich der Große. C.Bertelsmann Verlag, geb., 336 s., 19,99 €.
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