Verdrängtes Eigenes
Nazimorde, Differenz, Mehrheitsgesellschaft
Es gibt Gewaltverbrechen, die durchrütteln die ganze Gesellschaft, die erzeugen in den Medien Sensibilität für die Gründe, die zu den Taten führten, Empathie mit den Opfern. Diese Taten werden als Angriff auf die Gesellschaft an sich empfunden (ja, empfunden, nicht nur rational als solche erklärt!). Die Amokläufe an Schulen sind solche Beispiele. Oder die Tat Anders Breiviks in Norwegen.
Es gibt aber auch Gewaltverbrechen, die zwar wahrgenommen und analysiert werden, denen viele Medien allerdings kaum mit Empathie begegnen. Die Mordserie der Neonazis an Migranten ist so ein Beispiel. Thierry Chervel, Herausgeber der Feuilletonrundschau »perlentaucher« hat in der »Jüdischen Allgemeinen« eine These formuliert, mit der er diesen Unterschied in der Wahrnehmung und dem Einfühlen zu erklären versucht. Warum, so fragt Chervel, habe es schon vor dem Bekanntwerden der Urheberschaft der Mordserie »keine Sensibilität für den Zusammenhang zwischen den Morden« gegeben? Warum haben die Medien »die Thesen der Behörden (die die Täterschaft in Kreisen der Migranten selbst vermuteten, d. Red.) einfach nachgebetet?« Chervels Antwort: Mangelnde Empathie mit den Opfern. Anders als Breiviks Tat hätten die Morde der Neonazis nicht auf eine Institution der Gesellschaft, sondern auf die »anderen« gezielt.
Doch wer sind diese »anderen«? »Die Türken«, schreibt Chervel. Doch das ist nur ein Teil des Bildes. Man muss Chervels These noch zuspitzen. Die »Wut auf die Differenz« (Theodor W. Adorno) erzeugt jenen Abwehrreflex auf das, was nicht gleich ist mit der bürgerlichen Gesellschaft. Das »Andere«, das sind nicht die Cem Özdemirs oder Philipp Röslers, das sind jene, die abseits der bürgerlichen Welt in den Straßenzügen leben, in der sich die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft stets nur auf Durchreise durch fremdes Land wähnen. Empathie setzt voraus, der Differenz mit Selbstreflexion zu begegnen. Wie viel von dem, das mich vom Anderen abstößt, beruht auf »falscher Projektion«, ist in Wirklichkeit verdrängtes Eigenes? jam
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.