Von Nirgendsdaheim nach Wobinichzuhause

MATTHIAS WEGEHAUPT und sein sprachmächtiger Roman »Schwarzes Schilf«

  • Henry-Martin Klemt
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Buch erscheint zur rechten Zeit, es im Sommer mit aufs Boot zu nehmen, denn Muße des Lesers ist gefragt für die mehr als 400 Seiten lange, novelleske Geschichte, die Matthias Wegehaupt in seinem zweiten Roman erzählt.

Herr Sommer, sein Protagonist, ist ein hochgewachsenes Elementarteilchen der Kapitalverwertung im besten Krisenalter. Aus der Bahn geschleudert durch Aktienzockerei und Entlassung, mäandert er zu Wurzeln und Wasser bei Usedom. Dort hofft er, Ruhe zu finden, die ewige womöglich. An einem Bahnhofsschließfach entledigt er sich aller Accessoires moderner Sorglosigkeit, außer des wichtigsten, des Geldes. So kann ihm in Wegehaupts Road-Movie mit Charterjacht auf den Wasserstraßen des Ostens nicht viel passieren.

Nachdem die Tausend-Euro-Brille über Bord gegangen ist, kann Sommer hellsichtig werden. Er wehrt sich gegen die Menschen, und das Boot wehrt sich gegen ihn, bis Sommer, mit gebrochenen Rippen, zu gehorchen beginnt. Er hätte zuvor nicht sagen können, worin der Sinn seines Daseins bestand. Jetzt kann er nicht reflektieren, was seine Tragödie sein soll, auch wenn er allenthalben die existenziellen Fragen aufspannt zwischen den Polen: das Eigene und das Fremde, die entgleitende Welt, Chaos, Ordnung, Kunst und Krieg.

Wegehaupt schreibt, malt und musiziert gleichermaßen. Zerlegt sein Menschenbild in 137 Skizzen, spielt mit der Redundanz, formt Ellipsen, die sich zum Ausgang der Geschichte hin schließen, balanciert mit Sentenzen, Aphorismen und in die Prosa eingestreuten, reifen Versen. Diese Musikalität und dieser gleichsam schweifende und bündelnde Blick fesseln auch dort, wo zunächst wenig Fesselndes ist. Die im Dreck schleifende Schwanzfeder einer Taube zeigt bei Wegehaupt mehr von einer kaputten Welt als die Schockfotografien aus den Überraschungstüten der westlichen Mediengesellschaft, die Herr Sommer mit sich schleppt im überflüssig gewordenen Aktenkoffer.

Durch die Geschichte, dem begleitenden Erzähler anvertraut, wandeln Tote mit langen Schatten, der Vater mit seiner Postkartensammlung und den Zeugnissen, die er gab von den Gräueln des Krieges. »Die Sieger schreiben die Geschichte, die Geschichten schreiben die Besiegten«, glaubt Herr Sommer. Allmählich setzt Erinnerung ein, aber sie springt sofort in die Vorzeit zurück, die Herrn Sommer durch den Feuersturm jener Bombennacht treibt, der sein Vater entkam. Manchmal taucht ein Stück Kindheit aus dem Dunkel. Neben den Zahlen muss der Weitgereiste noch Zeit gehabt haben für Bildende Kunst, Literatur und Philosophie, die Geschichte seiner Insel sowieso. Verschlossen aber bleiben Jugend- und Mannesjahre, gerade, dass der Leser erfährt: Es gab eine Frau, und für eigene Kinder gab es eine Karriere zu viel, es gab einmal eine im Stich gelassene Geige.

Sommers Tragödie erklärt sich aus einem Dasein, das nicht erinnert wird, aber sie schmückt sich mit dem sarkastischen Blick des heillos Entfremdeten auf jedes soziale Detail. Sommer beobachtet seine Unzugehörigkeit, und das, wozu er nicht mehr zu gehören glaubt, sieht er in aller Diversität und Schärfe.

Zuweilen ist nicht sicher, ob Wegehaupt um Sommers Schicksals willen erzählt oder um des Fleckens Erde willen, den Sommer umsegelt und betritt: Häfen, Museen, Ateliers, verwandelte und versunkene Stätten des Vergangenen. Der Nationalsozialismus, die Nachbarschaft zu Polen, die Plattmacher aus dem Westen, die geostrategischen Verstrickungen des vergangenen Jahrhunderts und die Islamophobie der Gegenwart haben ihren festen Platz in den Attitüden fast aller Personen, denen Sommer begegnet: trockene Monologe, in denen Leute sich an ihren Phrasen und Vorurteilen abarbeiten, an ihrem trotzigen Dünkel und dem, was ihnen Geschichte scheint.

Das Boot, dem Herr Sommer zugeflohen ist, wird ihm Höhle in den Höhlen des Schilfes, Insel in Inselnähe, Ort des Schmerzes mehr als Ort der Geborgenheit. Der Schmerz ist kein Verlustschmerz, sondern Haltlosigkeit. Das Boot ist ein Keil, den er ins offene Meer treibt, nicht um zu siegen, sondern um unterzugehn. Nein, um zu wenden. Von einem polnischen Lagerfeuer kehrt er zurück mit einer neuzeitlichen Ikone, dem Drachentöter, statt mit einer Pistole.

Herr Sommer legt nicht einfach ab und an. Er vollführt Manöver, die immer wieder beschrieben werden müssen, weil seine Existenz sich zuzeiten auf diese Manöver reduziert. Manchmal schrammt er nicht nur scharf an fremden Schiffen vorbei, sondern auch an einer handfesten Psychose. Er schwelgt in den Posen des Neben-Sich-Stehens. Sein angestrengter Verzicht auf Selbstmitleid kommt melodramatisch einher. Das wirkliche Drama hingegen findet in komprimierten Szenen statt und steigert sich, bis Herr Sommer in Gegenwart Luzifers und des Bundespräsidenten fast das Messer zückt, um sich als Attentäter erschießen zu lassen.

Im morgens vergessenen Wachsein schreibt Herr Sommer seine Träume auf. Tagsüber entflammt er sie als Fidibus, um einen Spirituskocher in Gang zu setzen. Es sind vorauseilende Träume. In ihnen gibt es Sommers Tragödie nicht, weil es die Angst nicht gibt, und der Sinn des Lebens ist einzig das Leben selbst. Instant-Leben, aufgelöst in Lustbarkeit, ist keine Alternative. Doch in Lebensgefahr erfährt Sommer: Der Tod ist auch nicht, was er sucht.

Nicht gegen alle Menschen kann Sommer sich wehren. Nicht gegen die krumme Alte aus dem Dorf, nicht gegen die Pommesverkäuferin, die ihn als Havarierten ungebeten versorgt mit Kaffee, Wurst und Lächeln, und nicht gegen den Maler, den berserkernden Performancekünstler, der ihn in seinem Verdruss spiegelt und den er als Hohngestalt zu treffen versucht, bis sie sich zum großen Dialog vereinen. Da dieser Kerl ihn partout nicht erschlagen möchte, fraternisieren beide in grimmigem Wettbewerb um die Deutungshoheit für ihr Elend, lassen im Kajüten- und Fuseldämmer, gesättigt von Kunst und Philosophie, die Chance zur Katharsis wabern. Das geht nicht ab ohne Kritik der Zivilisation im Allgemeinen und der Informationsgesellschaft im Besonderen, die zwischen medialer Sintflut und sozialem Schleppnetz eine neue Art der Bewegung kreiert.

Man muss sich eben einen zum Reden suchen oder von einem gefunden werden. Und man braucht ein Boot. Damit segelt einer seinem Leben in der Stadt entgegen, die anders rauscht als das Meer. Herr Sommer nimmt Hilfe an. Er bittet. Er segelt von »nirgends daheim« nach »wo bin ich zu Hause?« Vermutlich wird er Bewerbungen schreiben und die Frau vom Pommesstand treffen. Er wird sich mit dem Maler betrinken und aus dem Schließfach zurückbekommen, was ihm zusteht dafür: Handy, Schlüssel, Anti-depressiva …

Matthias Wegehaupt: Schwarzes Schilf. Roman. Aufbau Verlag. 410 S., geb., 22,99 €.

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