Thomas von Steinaecker

Nominiert für den Leipziger Buchpreis

  • Michael Hametner
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Titel des vierten Romans von Thomas von Steinaecker ist lang, aber er beschreibt präzise, was der 42-jährigen Versicherungsvermittlerin Renate Meißner widerfahren ist: »Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen«. Andere haben sich 2008 große Sorgen gemacht und sind nicht zum Träumen gekommen, allenfalls zu Albträumen. Im September 2008 krachte die US-Bank Lehmann Brother zusammen. Die größte Finanzkrise des neuen Jahrhunderts traf ihre Verursacher, die Banken.

Die Handlung setzt am 1. Oktober ein. Am Ende sitzt Renate Meißner in der russischen Stadt Samara an der Wolga und beginnt aufzuschreiben, was aus ihrer schicken Münchner Appartementwohnung hierher gebracht hat. Die Finanzkrise! Ihretwegen hatte Renate Meißner durchaus Grund, sich Sorgen zu machen. Der Versicherungskonzern CAVERE, hatte sie von Frankfurt nach München zur Regionaldirektion München-Nord versetzt, weil sie aus ihrer Affäre mit einem Vorstandsmitglied eine feste Beziehung machen wollte: Lass dich scheiden, sonst ist es vorbei! Walter ließ sich nicht scheiden und mit Renate war's vorbei: Strafversetzung nach München.

Im 14. Stockwerk der Münchner Verwaltung geht's fies zu. Ein Controller ist im Haus, Einsparungen sollen die Zocker-Verluste des Vorstands ausgleichen. Einer muss gehen, weiß Renate, aber ich bin es nicht. Sie hat nämlich den einen oder anderen Premium-Kunden an der Angel, als größten Fisch Sofja Wasserkind, eine russische Vergnügungspark-Magnatin, die ihr Unternehmen bis München ausdehnen will und dafür Versicherungen braucht. Renate soll die 97-jährige Dame besuchen. Sie redet sich ein, Sofja Wasserkind sei ihre Großmutter, weil beide Frauen am selben Tag geboren wurden und Renates Großmutter seit einem Autounfall in den 70er Jahren verschwunden ist, aber noch Briefe an Renates Mutter geschrieben hat.

Sofja Wasserkind stammt tatsächlich aus Deutschland. Als ihr Mann, ein Vergnügungspark-König im Dritten Reich, für die Propaganda einen Germania-Park bauen sollte, hat er sich nach Russland abgesetzt. Und absetzen will sich Renate auch. Zumal sie in Samara erfährt, dass sie auch entlassen ist. Die Sorgen, die sie sich in dem Jahr gemacht hat, was Steinaecker als wunderbare groteske Angestelltenprosa erzählt, waren haben sich erfüllt.

Nach der nächsten Kurve nimmt der Roman romantische Fahrt auf. Renate beginnt am Wolgastrand zu träumen. Sie beginnt das Jahr erzählend zu dokumentieren. Das Buch imaginiert ein Tagebuch, eine Chronik, aus der Perspektive von Renate Meißner. Damit wir als Leser glauben, dass es so war, wie es war, stattet die Erzählerin den Text mit Fotos aus, mit Diagrammen und Statistiken.

Thomas von Steinaecker hat 2006 mit einer Arbeit über literarische Fototexte bei Rolf Dieter Brinckmann, Alexander Kluge und W. G. Sebald promoviert. Nun nutzt er dieses reizvolle Verfahren für seinen Roman. Die Fotos sind so gewählt, dass man sofort durchschaut, dass sie aus fremden Alben stammen (oder aus dem Internet). Eine Kunstebene, die plattem Realismus widerspricht.

Wunderbar die unterirdische Welt des Vergnügungsparks von Samara! Der 35 jährige Autor ist in seiner Literatur ein souveräner Verteidiger des Eskapismus. Mit seinem Debüt »Wallner beginnt zu fliegen« schrieb er sich in die Zukunft hinein, in »Geister« in das Weiterleben im Comic, in »Schutzgebiet« nach Afrika, wo deutsche Glückssucher eine Kolonie betreiben. Plötzlich wird Literatur wieder ein Spiel, ohne deshalb den Zeitgeist zu verfehlen. Hoch intelligent, sprachlich souverän. Von der Beschreibung des armseligen Angestelltendaseins mit ausgeprägtem Konsum von Beruhigungs- wie von Aufputschtabletten bis zu den Vergnügungsparks in Vergangenheit und Zukunft wird auf den 400 Roman-Seiten viel geboten. Ein erstklassiges Lesevergnügen, für das man sich als Leser nicht dumm stellen muss.

Thomas von Steinaecker: Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen. Roman. S. Fischer Verlag. 400 S., geb. 19,99 €.

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