»Der Geist lebt in der Provinz«
In Staucha bastelt Peter Sodann eine DDR-»Staatsbibliothek«, in der auch Lebenserinnerungen Platz finden
»Manchmal kann ich kein Buch mehr sehen«, stöhnt Peter Sodann - um gleich danach wieder treppauf, treppab zu gehen und sein Reich vielleicht zum tausendsten Male zu erklären. Mal eher verhalten, mal mit Spott, mal mit einem Dichterzitat, mal genervt ob der vielen Fragen, zeigt er auf Berge von Kisten, deren Inhalt noch in Regale im einstigen Kuhstall eingeordnet werden muss. Im Mai will der Schauspieler seine »Staatsbibliothek« eröffnen, an der er seit zwei Jahrzehnten bastelt und die alle zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 3. Oktober 1990 in der DDR erschienenen Bücher beheimaten soll.
Diesmal hat das Ehepaar Funda aus Staßfurt Einlass in Sodanns Refugium begehrt. Funda, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, zu Papier gebrachte Lebenserinnerungen ehemaliger DDR-Bürger zu sammeln und der Nachwelt zu erhalten, sucht einen Ort, wo derlei oft mühsam entstandene Aufzeichnungen aus dem Alltag der DDR gut aufgehoben sind. In der Hoffnung, dass sich irgendwann Historiker, die nicht nur eine schonungslose Abrechnung mit dem untergegangenen kleinen Land im Sinn haben, dafür interessieren, wie es wirklich war in dieser DDR. Funda bewundert nicht nur die Regale, die Sodann bei einem Bieterwettbewerb im Internet von der Deutschen Bücherei in Leipzig erworben hat, sondern fühlt sich auch als ehemaliger Veterinärmediziner im ausgebauten Kuhstall zu Hause.
Vielleicht war es der Titel von Fundas eigener Autobiografie »Mein Leben mit Rindviechern, Politikern und Menschen«, die Sodann bewogen, den über 70-jährigen Staßfurter einzuladen, vielleicht die Ahnung, dass da einer auch ein verrücktes Vorhaben wie er selbst verfolgt, vielleicht aber auch der Ärger darüber, dass so viele ihre eigene Idee mit den DDR-Hinterlassenschaften verfolgen, statt die Kräfte zu bündeln. Kraft und vor allem Geld und Mitstreiter braucht Sodann dringend, um allen Spöttern zum Trotz sein einzigartiges Projekt umzusetzen.
Was hat er nicht alles versucht, beim Ex-Bundespräsidenten Horst Köhler, gegen den er zur Bundespräsidentenwahl als Kandidat der LINKEN angetreten war, ist er gewesen. Hat ihm als Audienzgeschenk drei Bücher mitgebracht. »Das Gemälde« von Daniel Granin, das für ihn für den wenig liebevollen Umgang der SED mit Literatur steht. »Die Pest« von Camus, deren Existenz im Sodannschen privaten Buchbestand der Staatssicherheit als Indiz galt, dass der Künstler ein DDR-Feind war - was ihm schließlich sogar Knast einbrachte. Und die hundert Brecht-Gedichte, die der Schauspieler ganz besonders liebt. Köhler muss den Hintersinn der Gaben nicht verstanden haben - jedenfalls machte er kein Geld für Sodanns Staatsbibliothek locker.
Bei Normalsterblichen hat der kleine Mann mit dem großen Vorhaben mehr Glück. Zwar reichen die Spenden für die »Staatsbibliothek« hinten und vorne nicht, aber dass ein ihm unbekannter Günther Machatschke, dessen Adresse Sodann gerne wüsste, seit Jahren jeden Monat einen Euro spendet, beeindruckt den Künstler sichtlich. Das Prozedere geht auf dessen Aufruf zurück, dass ein einziger Euro von jedem Bundesbürger viel mehr wäre, als er in Staucha je benötigen würde. Allerdings hat nicht jeder Bundesbürger reagiert. Und vor allem nicht die Politik.
»Ich behaupte, wenn man im Bundestag ein Gedicht aufsagt, wird man ausgepfiffen«, kommentiert Sodann den Umgang der politischen Elite mit Kunst und Kultur. Darin bestärkt sieht er sich auch durch die Absage von Kulturstaatsminister Bernd Neumann, der seiner Sammlung von DDR-Literatur mit Verweis auf die Nationalbibliothek keine Unterstützung zukommen ließ. Freilich hatte Köhler den Künstler nicht ohne erschrockenen Augenaufschlag aus dem Bellevue ziehen lassen. Als Sodann ihn auf die beispiellosen Büchervernichtungen im Osten des einig Vaterlandes hinwies und den Präsidenten bat, Kraft seines Amtes Einhalt zu gebieten, hatte Köhler ausgerufen: »Das darf man nicht machen«. Das war es aber denn auch.
Die Büchervernichtungen mit und nach dem Ende der DDR waren der Anlass für Sodann, mit der Sammlung ganzer Bibliotheksbestände zu beginnen. Ihn ärgert die dahinter steckende Kulturlosigkeit seiner Mitbürger, aber auch die Heuchelei »in diesem Staat Bundesrepublik«. »Da wird zum Tod von Christa Wolf eine riesige Beerdigung veranstaltet, dabei ist nach der Schließung von 20 000 Bibliotheken im Osten Christa Wolf schon zu Lebzeiten verbrannt worden.« Sodann wird richtig wütend. Im Einigungsvertrag sei festgeschrieben, alles Bestehende zu erhalten - im wahren Leben wurden Millionen Bücher zu Müll.
»Nur durch Bildung und Kultur kann die Welt verändert werden«, ist Sodann sich sicher. Also hat er angefangen, alles der Vernichtung Gewidmete einzusammeln. Hunderttausende sind es inzwischen, die in dem Vierseitenhof im sächsischen Staucha in der Lommatzscher Pflege Stück für Stück in die Regale wandern. Ein Exemplar für die »Staatsbibliothek«, die Doppelgänger in die Buchhandlung zum Weiterverkauf. In den beiden anderen Gebäuden sieht Sodann schon ein Hotel und ein Theater. Skeptikern eines solchen Unterfangens sei die Biografie des Schauspielers, Kabarettisten, Theaterintendanten, »Tatort«-Kommissars und mehrfachen Galeriegründers empfohlen, der sich allen Widerständen und Rausschmissen zum Trotz stets als wahres Stehaufmännchen erwies.
Und ausgerechnet in Staucha - »Der Geist lebt in der Provinz, von den Hauptstädtern ist kein vernünftiger Gedanke zu erwarten« (Sodann) - seinen Traum von der DDR-Bibliothek verwirklicht. Nicht allein freilich, denn anders als bei den Regierenden fand Sodann im Dörflichen Unterstützung. Nachdem er vom CDU-Bürgermeister in Merseburg mitsamt seinen Büchern aus der Stadt gejagt worden war, hatte er im Internet einen Hilferuf losgelassen. Peter Geißler, parteiloser Bürgermeister aus Staucha, bot ihm Hilfe und den Vierseitenhof an. Zwischen Weihnachten und Neujahr 2009 trafen sich die beiden und Geißler fand sofort, »dass die Chemie stimmt«.
Das blieb übrigens so zwischen dem 65-jährigen Kommunalpolitiker, der in seinem früheren Leben Elektromeister in der LPG und privater Unternehmer war und mit der DDR nicht eben viel am Hut hatte - und dem 75-jährigen Künstler, der aus dem benachbarten Meißen stammt und jetzt drauf und dran ist, mit seinen Büchern dorthin zurückzukehren. Natürlich verspricht sich Geißler von dem Projekt und dessen bekanntem Namensgeber mehr öffentliche Aufmerksamkeit für die 21 Ortsteile umfassende Gemeinde und erklärt das auch immer wieder Kritikern, die meinen, für die Bibliothek sei Geld und Arbeitskraft da, aber anderes bliebe liegen. Doch öffentliche Wahrnehmung ist nicht allein sein Motiv. Der Politiker ist wie der Künstler - und eben auch Funda - der Meinung, dass die Büchersammlung für Nachfahren Wert haben wird. Während Geißler das eine oder andere Exemplar in die Hand nimmt und sich an jüngere Tage erinnert, sagt er nachdenklich: »Bücherverbrennungen hatten wir schon mal in Deutschland.«
Funda schaut genau in alle Ecken, lässt sich zeigen, wo die von ihm initiierte Sammlung von selbst geschriebenen Lebenserinnerungen ihren Platz finden könnte, und fragt Sodann zum x-ten Male, ob die in Staucha gut aufgehoben sind. Der holt in der ihm eigenen fast mürrischen Art Luft und liefert eine seiner schauspielerischen Kostproben. Er habe den lieben Gott gebeten, 125 Jahre alt zu werden - auch, um alle jene zu beerdigen, die ihn in seinem Leben geärgert haben. Soll heißen, er wacht auch über den Bestand, den der Staßfurter ihm bringen wird, schließlich habe er eine konterrevolutionäre Ecke im einstigen Kuhstall geschaffen. Nach gemeinsamem Gelächter wird Sodann ernst: Den Verein will er in eine Stiftung verwandeln, »damit aus Quantität auch Qualität werden kann. Nach Nachfolgern sieht er sich um. Und wird die Zeit seines Daseins nutzen, »um die Bevölkerung dazu zu bringen, dass sie das, was hier entsteht, liebt.«
Das überzeugt Funda, der zudem den Kontakt zur Rosa-Luxemburg-Stiftung gesucht hat, um für Sodanns und die eigenen Ambitionen Unterstützung zu bekommen. Stiftungschef Heinz Vietze findet das Anliegen beider Männer nicht nur »interessant«. »Die inzwischen zu Tausenden entstandenen Lebenserinnerungen sind nicht Ostalgie, sondern geben in der Palette ein buntes Bild vom Alltag in der DDR, das Pflege und Unterstützung, ja Förderung verdient«, sagt er. Und auch, dass seine Stiftung überlegen muss, wie sie künftig Sodanns und Fundas Anliegen mit der eigenen Zeitzeugenarbeit bündelt.
Weitere Informationen
Dass Menschen aus ihrem Leben berichten, um Kindern und Enkeln ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu hinterlassen, hat es zu allen Zeiten gegeben. Aber nach dem Ende der DDR setzte eine wahre Schreibflut ein. Das liegt auch daran, wie wenig sensibel die bundesdeutsch dominierte Gesellschaft nach der Vereinigung beider deutscher Staaten mit ostdeutschen Biografien umgegangen ist. Inzwischen ist aus den Erinnerungen Tausender Menschen eine ganz eigene Bibliothek entstanden, die es wert ist, aufbewahrt zu werden. Der Tierarzt Rolf Funda hat durch das nd eine Erinnerungsbibliothek ins Gespräch gebracht und Peter Sodann ist gewogen, der in seiner einzigartigen Sammlung von DDR-Literatur Asyl zu gewähren.
nd im Club wird am 28. März mit Autoren und Organisatoren ins Gespräch kommen. Vormerken!
Wer das Bücher-Rettungs-Projekt unterstützen will, sollte unter: Peter-Sodann-Bibliothek e.V. bei der Sparkasse Meißen (BLZ 85055000), Konto-Nummer: 315000 5000 spenden.
Infos zur Peter-Sodann-Bibliothek
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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