Der Rohrstock hat ausgedient
Indien setzt mit einer neuen Richtlinie für Lehrer endlich ein Urteil des Obersten Gerichtshofes um
Anlass ist eine Studie, die darlegt, dass trotz des faktisch schon geltenden Verbotes in den meisten Schulen Kinder und Jugendliche trotzdem noch immer geschlagen werden. Von 6632 zwischen 2009 und 2010 befragten Schülern im Alter von drei bis 17 Jahren gaben erschreckende 98 Prozent an, bei angeblichem oder tatsächlichem Fehlverhalten weiterhin physischer Bestrafung durch die Lehrkräfte ausgesetzt zu sein. Angesichts der Tatsache, dass in immerhin 17 Unionsstaaten und damit gut der Hälfte des Landes die Regionalregierungen das Gerichtsurteil auf dem Papier umgesetzt haben, hat der statistisch nachweisbare Blick in die Realität jetzt die Nationale Kinderrechtskommission aufgerüttelt. Das 2007 gegründete Gremium ist es, das nun die Richtlinie erlassen hat, welche wiederum von den zuständigen Ministerien der einzelnen Staaten in die jeweilige Gesetzgebung einzuarbeiten ist.
Schläge mit dem Rohrstock, hat die Umfrage unter den Betroffenen erbracht, ist die weitaus häufigste Methode, wenn Lehrer allein mit Ermahnungen nicht weiterkommen und zu Gewaltanwendung greifen. Aber auch Ohrfeigen, das Ziehen an den Haaren oder anderes kommen im Klassenzimmer zur Anwendung, um pädagogische Autorität mit allen Mitteln durchzusetzen. Für viele Eltern ist dies kein besonderer Grund zur Sorge. Erstens haben die meisten das gleiche in ihrer Jugend selbst erlebt und empfinden es als völlig normal. Zweitens geht es in vielen Familien bei der Erziehung auch nicht unbedingt gewaltfrei zu.
Während Kinderrechtsgruppen den Erlass der Kommission begrüßen und neben der Umwandlung in verbindliche Vorgaben seitens der Regionalregierungen auch striktere Kontrollen fordern, gibt es auch Skepsis bis Opposition. Sangeetha Varma zum Beispiel, Vorsitzende der Vereinigung Anerkannter Schulen im Distrikt Hyderabad, der Hauptstadt des südindischen Andhra Pradesh, ist selbst Direktorin einer Schule und sieht eine Gefahr für das Bildungssystem, wenn Lehrer bei jeder disziplinarischen Maßnahme Verdächtigungen ausgesetzt würden. Sie sieht die Richtlinie durchaus als positiv für die Schulen, fürchtet aber, dass die Zahl der Bewerber für offene Stellen künftig zurückgehe, wenn jeder Lehrer unterschreiben müsse, dass er seine Schüler nicht schlage.
»Viele Lehrer gehen nur aus Mangel an Alternativen in diesen Beruf, sind schlecht ausgebildet und damit nicht professionell genug, zugespitzte Situationen gewaltfrei zu lösen«, führt sie als Begründung aus. Damit spricht sie ein Problem an, das tatsächlich weithin existiert: Gerade die Lehrer in manchen Privatschulen verfügen über keinerlei pädagogischen Abschluss, und selbst bei formell ordentlich ausgebildetem Personal haben Fragen der Unterrichtsmethodik, von Psychologie und Umgang mit Konfliktsituationen kaum eine Rolle gespielt. Nicht unbegründet mag auch die Sorge von Sangeetha Varma sein, dass Eltern mit ungerechtfertigten Anschuldigungen womöglich die Entlassung missliebiger Lehrkräfte fordern könnten.
Die praktische Durchsetzung selbst der neuen Richtlinie landesweit in Zehntausenden von Schulen wird ohnehin noch etwas auf sich warten lassen. Immerhin macht die Kommission schon sehr konkrete Vorgaben der Kontrolle. So soll in jeder Bildungseinrichtung eine Fachgruppe eingerichtet werden, die alle eingehenden Beschwerden nicht nur hinsichtlich Gewaltanwendung, sondern auch sexueller Übergriffe genau prüft, um Maßnahmen einzuleiten. Mit den neuerlichen Bemühungen dürfte auch ein Rückgang der Selbstmorde von Schülern verbunden sein. Zwar ist übermäßiger Leistungsdruck dabei die Hauptursache, doch mancher Betroffene sieht auch wegen fortgesetzter physischer und psychischer Gewalt durch Lehrer den einzig verbliebenen Ausweg im Suizid.
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