Was Glück ist

Dragan Aleksic erzählt von »Vorvorgestern«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf dem Buchumschlag ein Bild der Ruhe: Ein Mann und eine Frau auf einer Bank unter einem Baum, an dem eine Schaukel hängt. Schaut man genauer hin, sieht man zwei winzig rote Punkte. Die beiden rauchen und unterhalten sich.

Die Entsprechung zu dieser Zeichnung von Falk Nordmann findet sich auf Seite 17: »Zwei rote Punkte, die sich bewegten«. Der kleine Junge, der später zum Schriftsteller Dragan Aleksic werden sollte, hat in einer lauen Nacht ein Gespräch seiner Eltern belauscht. »Nächstes Jahr um diese Zeit beginnen wir mit dem Hausbau auf unserem Grundstück am anderen Ende der Stadt«, kündigt der Vater an. Endlich kämen sie raus aus dem Armeleuteviertel und es würde genügend Platz für die Kinder sein. Sechs Zimmer »UND EIN BAD«. Darauf die Mutter: »Hier hat niemand ein Bad, trotzdem sind alle gesund und munter ... und glücklich.« Das darf als Kernsatz dieses Buches gelten, in dem Dragan Aleksic auf eine Kindheit zurückblickt, die offensichtlich harmonischer war als sein späteres Leben.

1958 ist er in der Kleinstadt Bela Crkva geboren, wo Deutsche und Serben, Rumänen und Ungarn zusammenlebten. Der Junge wurde mit Zigeunerkindern groß. Die dunkelhaarigen Frauen haben ihn, den Blonden, ganz besonders gemocht. Geliebt war er - von Vater, Mutter, der Tante, den Großeltern, die auch in der Nähe wohnten, den Nachbarn. Er lebte in einem Verbund mit Geschwistern und Freunden. Ein Brot mit Zucker oder Marmelade - und kauend aus dem Fenster schauen. Mit dem Opa hoch oben auf dem Pferdewagen sitzen, von der Oma einen heißen Fladen kriegen, barfuß durch die Gegend rennen, Mohnblumen pflücken, nachts beim Gang aufs Klo den Mondschein bewundern ...

65 kleine Geschichten - Episoden aus einer Kindheit, in der nichts spektakulär und doch alles interessant gewesen ist. Wie der Vater abends hinter einem Vorhang nähte, wie einmal die Schlaufe seines Mantels riss, wie er der Mutter die Haare schnitt oder wie die Schwester träumte, sie sei eine gute Fee. Jede Kleinigkeit ist erzählenswert, Aleksic verweigert sich der Rangordnung von »wichtig, wichtiger am wichtigsten«. Beim Lesen wird man bald mitbekommen, dass dieses Buch über das »Vorvorgestern« - Mitte der 60er Jahre in einer untergegangenen Heimat - auch eines über das Heute ist.

Spielzeug kaum, nur zwei Bilderbücher gab es, die schauten sie sich immer wieder an. Sie waren arm, aber zumindest die Kinder spürten es nicht, weil es weit und breit keine reicheren Leute gab. Sie kannten keine Hast, sie lebten und wussten noch nicht, wie sich das, was man Geschichte nennt, einmischen kann ins Persönlichste. Fortschritt, meint Dragan Aleksic, macht Menschen nicht unbedingt froh. Ob er in North Olmstedt, Ohio, USA, wo er seit 2006 lebt, die verloren Beschaulichkeit wiederfand?

Dragan Aleksic: Vorvorgestern. Geschichten, die vom Glück handeln. Aus dem Serbischen von Mirjana u. Klaus Wittmann. Matthes & Seitz. 108 S., geb., 14,90 €.

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