Das Krokodil im Gefühlshaushalt
Dresdner Hygiene-Museum inszeniert die Leidenschaften als Drama in fünf Akten
Wo sitzen eigentlich die Gefühle? Die Liebe - gar keine Frage: Sie hat ihren Platz im Herzen. Der Schreck dagegen - er fährt natürlich in die Glieder. Überkommt einen die Angst, ist es die Kehle, die zugeschnürt wird. Wo aber manifestiert sich der Zorn? Das Alte Testament kennt eine, wenn auch aus heutiger Sicht merkwürdige, Antwort: Rasender Zorn steigt dort in die Nase. Auch andere Organe und Körperteile galten erstaunlicherweise einst als Orte, denen Leidenschaften zugeordnet waren: der Magen, die Leber, sogar die Milz.
Der Besucher einer Sonderausstellung im Dresdner Hygiene-Museum, die sich den Leidenschaften widmet, erfährt das in einem Badezimmer. Hinter einem halb transparenten Duschvorhang scheint ein Mensch in einer Badewanne zu stehen, der sich beim Blick hinter den Vorhang als anatomisches Lehrmodell entpuppt. Einzelne seiner inneren Organe schweben an Fäden in der Luft. Es ist eine Szenerie, die an einen Hitchcock-Krimi erinnert und bei deren Anblick sich die Nackenhaare aufrichten - auch sie also offenkundig der Ort einer Leidenschaft: des Grauens.
Wobei sich die Frage stellt: Ist das Grauen überhaupt eine Leidenschaft? Nein, meint der Philosoph Immanuel Kant, der es wie Bangigkeit oder Jähzorn nur den Affekten zuordnet. Die scheidet er säuberlich von Leidenschaften wie Liebe und Hass, aber auch der »Geschlechtsneigung«. Baruch de Spinoza zählt das Grauen dagegen überhaupt nicht zu den Leidenschaften, obwohl er in seiner »Ethik« immerhin 52 davon aufzählt, eine rekordträchtige Liste, auf der sich unter anderen Bestürzung, Wetteifer oder Wohlwollen finden. Derweil vermochten die Franzosen Michel de Montaigne und Albert Camus deutlich weniger Leidenschaften zu identifizieren. Ersterer nennt in seinen »Essais« nur den Zorn und die Angst; für den Existenzialisten Camus existiert sogar nur eine einzige, wahre Leidenschaft - die Absurdität.
Die Frage, welche Leidenschaften es gibt und was sie ausmacht, klärt die Dresdner Ausstellung im ersten von fünf Räumen - oder besser: Akten. Schließlich ist die Schau, die von der Australierin Catherine Nichols gemeinsam mit einer Opernregisseurin und einer Kostümbildnerin gestaltet wurde, angelegt wie ein klassisches Drama in fünf Akten. Der Gedanke liegt nahe; Leidenschaften seien schließlich »die dramatischsten unserer Gefühle«, wie Nichols sagt. Sie wühlen den Menschen auf - und reißen ihn manchmal wider Willen mit sich hinweg, was einst auch im Begriff deutlich wurde. Bis vor rund 300 Jahren die Bezeichnung »Leidenschaften« aufkam, wurde von »Pathos« oder »Passionen« gesprochen. Die begriffliche Nähe zur Passivität ist kein Zufall; schließlich fühlen sich nicht wenige Menschen den Leidenschaften fast hilflos ausgeliefert.
Über diesen Zustand wird in der Ausstellung erst in den späteren Akten nachgedacht. Zuvor hat der Besucher ein plüschiges Theaterfoyer in rotem Samt und goldenem Stuck durchschritten und findet sich unvermittelt in einer weißen, kühl wirkenden Wohnung: Kochzeile, Sitzecke, Bett, Esstisch. Die Germanistin Nichols hat für das Ausstellungsthema eine amüsante Metapher gefunden. Der Raum ist gewissermaßen das nach außen gekehrte Innenleben des Besuchers: sein Gefühlshaushalt. Der ist anfänglich noch geordnet und aufgeräumt. Die Turbulenzen, in die er geraten kann, werden vorerst nur angedeutet - in Gestalt eines monströsen Krokodils, das über dem Esstisch schwebt. Das unheimliche Moment der Leidenschaften, deutet Nichols an, ist nie wirklich weit entfernt.
Freilich: Die Ausstellung will Leidenschaften nicht als Bedrohung verstanden wissen. Angestrebt werde vielmehr ihre »Apologie in einer Zeit, in der Leidenschaften an den Rand gedrängt werden«, sagt Museumsdirektor Klaus Vogel: Man wolle die »großen Gefühle mit viel Freude und ein wenig Augenzwinkern in ihr Recht setzen«. Allerdings weiß auch Vogel, dass leidenschaftliche Menschen leicht zumindest »einem Anfangsverdacht von Übertreibung und Unseriösität« ausgesetzt sind. Der Überschwang der Gefühle - er wird im Stadion und auf der Bühne gesucht, im Alltag dagegen als pathetisch und peinlich empfunden. Es ist ein Zwiespalt: Wer leidenschaftslos dahinlebt, gilt als fad; wer Passionen ungezügelt auslebt, als unfähig zum Maßhalten. Kuratorin Nichols spricht von den Leidenschaften als »Antrieb und Störenfriede«. Der französische Theaterdichter Denis Diderot verglich sie mit den Saiten einer Geige. Bei einem Toren seien sie zu hoch gespannt; das Instrument schreit. Beim »Blödsinnigen« ist die Spannung zu gering, und das Instrument brummt.
Es ist mit den Leidenschaften also eine Gratwanderung, welche die Ausstellung ihre Besucher (die Nichols gleichzeitig als ihre Hauptdarsteller versteht) im Wortsinn erleben lässt. Schon in Akt 2 ist ein Teil des Gefühlshaushalts deutlich in Schieflage geraten: der Boden steil geneigt, die Möbel verrutscht. Wer sich beim Gang durch die Exposition für diese Seite des Raumes entscheidet, der muss Ehrgeiz entwickeln und kämpfen. Der Besucher hat freilich die Wahl: Will er sich wirklich den Stürmen der Leidenschaft aussetzen, oder zieht er es vor, wenn das Schiff im sicheren Hafen bleibt? Dort droht keine Gefahr. Aber worauf verzichtet er womöglich?! Starke Emotionen könnten »furchtbare Abgründe« öffnen, räumt Nichols ein; sie können aber auch für »beflügelnde Momente« sorgen. Im dritten Raum, in dem die Leidenschaften mit aller Macht zum Ausbruch kommen, stehen zwei Betten. Eines ist zerwühlt aus purer Lust, das zweite zerbrochen unter dem Alpdruck schierer Angst. Kann, wer sich der einen Leidenschaft hingeben will, jene im Zaum halten?
Das Bändigen mächtiger Gefühle hat unsereins jedenfalls früh gelernt. Wer, vom Erkenntnisfieber überwältigt, in der Schule aufsprang, bekam eins auf die Finger oder wurde in die Ecke gestellt; wer gesittet antwortete, konnte dagegen einen Bienchenstempel mehr nach Hause tragen. Eine Vielzahl von Institutionen hat sich, wie in Akt 4 gezeigt wird, dem Zügeln überbordender Leidenschaften verschrieben: Schule, Kirche, Arbeit. Längst passé der »Blaue Montag«, an dem der Rausch einer sonntäglichen Feier ausgeschlafen wurde. Weitgehend beherrschbar aber als ungesund empfundener kindlicher Bewegungsdrang: Im Medizinschränkchen findet sich Ritalin. Das Chaos, für das die entfesselten Leidenschaften zwischenzeitlich sorgten: Es wird wieder eingefangen und in geordnete Bahnen gelenkt. Für Lust und Exzess sind in unserer Gesellschaft der Sport zuständig - oder Einkaufstempel: Shoppen, auch eine Leidenschaft.
Die bunten Einkaufstüten bilden aber nicht das Schlussbild in der Dresdner Schau. Vielmehr reißt diese am Ende die Frage an, welche Erkenntnisse etwa die moderne Hirnforschung zum Thema beisteuern kann. Dabei rückt eine Leidenschaft ins Blickfeld, die zuvor kaum eine Rolle spielte: die Empathie. Sie sei ein Gefühl, das »den Menschen als soziales Wesen ausmacht«, sagt Nichols - aber vielleicht nicht nur ihn. Die Primatenforschung gibt Hinweise, dass auch Affen zu Mitgefühl fähig sind. Eines der letzten von 390 Exponaten in der sehenswerten Schau ist deshalb ein Bonobo, der in einem Wohnzimmersessel hockt. Auch Mitleid und Empathie könnten »unkontrollierbar sein und uns machtvoll überfallen«, sagt Catherine Nichols. Es wäre eine Leidenschaft, die gar nicht genug entfesselt und vielleicht gar trainiert werden sollte. Schließlich, schrieb Fjodor Dostojewski, sei »Mitleid das wichtigste und vielleicht einzige Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit«.
»Die Leidenschaften. Ein Drama in fünf Akten«. Bis 30. Dezember 2012 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden am Lingnerplatz. Täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr. Eintritt 7/3 Euro
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