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Erschütterung einer selbstzufriedenen Republik
Wider das Verschwiegene, das Verdrängte in der BRD: Der Roman »Die Blechtrommel« von Günter Grass
»Was ist der Unterschied zwischen einem Juden und einer Geige?« fragte einer von denen in der Kneipe. Als er nach einer Kunstpause sagte: »Der Jude brennt länger!«, wieherten die dicken älteren Männer mit den bierbeglänzten Gesichtern am Nachbartisch. - Ich habe damals geschwiegen, auch kein anderer wagte etwas zu sagen.
Das Schweigen war groß im Lande BRD. Der erste Auschwitz-Prozess sollte erst Ende 1963, lange nach der Veröffentlichung der »Blechtrommel« beginnen und zum Ausgangspunkt einer sehr, sehr langsamen Änderung der Sicht auf die jüngere deutsche Geschichte werden. Die Juden waren für mich, den jungen Westdeutschen, geheimnisvolle Menschen, die sehr geschäftstüchtig waren, wie man hörte. Aber es musste noch etwas anderes, etwas Düsteres geben. Man kannte ja keinen von ihnen.
»Judensau«, hatten SA-Leute an das Schaufenster des Spielzeugwaren-Händlers in Danzig geschrieben, bei dem der zwergwüchsige Oskar aus der »Blechtrommel« immer seine Trommeln kaufte. Günter Grass, der Autor des Romans, beschreibt die Nazis in all ihrer Niedrigkeit, lässt sie wüten, in den Laden des jüdischen Händlers kacken und vergisst nicht zu erwähnen, dass der Vater des kleinen Oskar seine »Finger und seine Gefühle« am Feuer der brennenden Synagoge wärmte.
Das Buch las ich im Bett, von der nahen Dreifaltigkeitskirche wehte das Geläut der Glocken durch das offene Fenster. Ausgerechnet zum Roman-Abschnitt »Glaube - Hoffnung - Liebe«, in dem das Pogrom beschrieben wird, ein Verbrechen, das seine Wurzeln auch im christlichen Glauben hat, lieferten die Glocken eine Sonntags-Untermalung. Und Grass schließt das Kapitel: »Mir aber nahmen sie meinen Spielzeughändler, wollten mit ihm das Spielzeug aus der Welt bringen.«
Nicht nur vom Judenmord erfuhr ich zum ersten Mal durch Grass. Auch von der umkämpften polnischen Post in Danzig, die, angegriffen von der deutschen SS-Heimwehr, von einer Handvoll Polen verteidigt wurde. Wie mein Geschichtsunterricht kein Auschwitz kannte, war ihm auch der deutsche Überfall auf Polen nicht geläufig. Auch von den überlebenden Verteidigern der Post, die standrechtlich erschossen worden waren, kein Wort. Polen? Die kamen in Westdeutschland entweder im geflügelten Wort von der polnischen Wirtschaft vor oder aber im Kinderreim: Rot-Blau-Polacksfrau. Bei Grass erfährt man vom Tod des leiblichen Vaters von Oskar, einem jener Polen, die »wegen Freischärlerei hingerichtet« wurden, durch den Dienstbrief eines deutschen Feldjustizinspektors.
»Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt«, so beginnt der Roman. Und schon dieser Anfang, der einen amtlich beglaubigten Verrückten zur Hauptfigur des Buches macht, die das gesellschaftlich Normale aus einer ver-rückten Perspektive erzählt, eröffnete eine neue Sicht auf die noch junge Bundesrepublik, nicht nur im literarischen Sinne, und stellte damit deren Ideologie der Verdrängung bloß.
Der erotische Schriftsteller Grass brach die verklemmte Republik auf, in der das Sexuelle dem Puff und dem dunklen Schlafzimmer unbedingt verheirateter Paare überantwortet war. Dass wir mitten unter den Nazi-Mitläufern lebten, dass es gewöhnliche Leute waren, die gestern noch in fremden Ländern gehaust hatten, das war bei Grass ebenso zu lesen wie von der Euthanasie oder von den Ostarbeitern. Alles Themen, die von der öffentlichen Debatte der Bundesrepublik viel später erst aufgegriffen wurden.
Wenn ich meinen Vater nach dem Krieg fragte, wurde mir von den ersten Apfelsinen seines Lebens erzählt, die der junge Soldat in Sizilien gesehen hatte, vom windgepeitschten Meer bei La Rochelle, den breiten Straßen von Paris und den langen Eisenbahnfahrten durch Frankreich in den Waggons erster Klasse. Von der Bettwäsche, die er aus dem besetzten Brüssel nach Hause schickte, kein Wort. Davon, dass er zeitweise nicht weit von einem Konzentrationslager stationiert war, keine Silbe. Erst der Grass'sche Roman hat mich dann für die Fragen präpariert, die meine Generation später den Eltern stellen sollte.
In der »Blechtrommel« spült das Kriegsende den Herrn Fajn-gold aus Treblinka nach Danzig und lässt ihn dort über seine Arbeit als Desinfektor erzählen, der Lysol hatte spritzen müssen, über die, »die noch nicht geduscht hatten« und »die Liegenden, die schon geduscht hatten« im Vernichtungslager, in dem die Brausen den Tod brachten. Mit der zynischen Sprache der »Blechtrommel«, die den Ton der Herrenmenschen zitierte, wurde mir und vielen anderen der industrielle Mord an den Juden erfahrbar.
Der kleine Oskar, der Gnom, hatte den Blick von ganz unten: Unter die Röcke der Frauen ebenso wie auf die kleinen Leute der Nazi-Zeit. Es ist das scheinbar Private, von dem Grass in der »Blechtrommel« erzählt und es macht das Grauen bis heute öffentlich, wenn eine der Roman-Figuren über die Euthanasie, also die mögliche Ermordung des verkrüppelten Oskar nachdenkt, um ihn zum Mord freizugeben: »Aber siehst ja, is nich jeworden, wird überall nur rumjestoßen und weiß nich zu leben und weiß nich zu sterben«.
Der vorgebliche Gnadentod für die Krüppel, die Endlösung für die Juden, Zwillinge in den Augen eines Autors, der seinen Lesern das richtige Sehen beibrachte. Das erste große Buch des Schriftstellers führte zu jener Erschütterung, die das Leben in der satten, selbstzufriedenen Republik, dem dumpfen, versiegelten Land, verändern sollte. Zu Veränderungen, die bis heute spürbar sind.
Günter Grass hat kein Bundesverdienstkreuz für seine immense literarische, politische und aufklärerische Leistung bekommen. Statt dessen jetzt ein Einreiseverbot nach Israel. Unter den aktuellen Bedingungen ist das auch eine Auszeichnung.
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