Gezielte Panikmache

Eine Klage in Luxemburg ist weniger schlimm, als von Befürwortern der Vorratsdatenspeicherung behauptet

Heute läuft die Brüsseler Frist zur Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung aus. Eine Einigung in der Bundesregierung gibt es nicht. Eine Klage vor dem Gerichtshof steht bevor. Das ist jedoch halb so schlimm: EU-Klageverfahren sind keine Seltenheit. Zudem fehlen Brüssel letzte Druckmittel.

Gemessen an der Aufregung von Unionspolitikern steht Ungeheuerliches bevor. Die EU-Kommission könnte die Bundesrepublik vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagen, weil sie die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht umgesetzt hat. Strafzahlungen in Millionenhöhe könnten den Steuerzahler belasten. Doch was so klingt, als würde der Musterschüler Angst vor seinem ersten Tadel haben, ist politisches Manöver. Vertragsverletzungsverfahren mit all ihren Etappen gehören zum Alltag in der Europäischen Union. So versucht die Bundesrepublik derzeit in 74 Verfahren ihre Auffassung gegen die EU-Kommission durchzusetzen. Das weiß auch Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), der jedoch die sechsmonatige Speicherung aller Telekommunikationsdaten unbedingt durchsetzen will.

Jeden Monat gibt die EU-Kommission in Brüssel bekannt, welche neuen Anklagen sie erhoben oder welche neuen Schritte sie in laufenden Verfahren eingeleitet hat. 2010, dem Jahr, aus dem die jüngsten öffentlichen Zahlen stammen, liefen 2092 Verfahren gegen Mitgliedsstaaten, davon seinerzeit 104 gegen Deutschland. Allerdings werden nach Angaben der Kommission 95 Prozent der Vertragsverletzungsverfahren vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung beigelegt. 2010 verhandelte der EuGH 72 Fälle, davon vier gegen Deutschland.

Bis ein Fall vor die Richter in Luxemburg kommt, muss der Konflikt zwischen EU-Kommission und beklagtem Staat wie im Fall der Vorratsdatenspeicherung schon eine Weile brodeln. Eigentlich sollte die EU-Richtlinie seit 2007 in Deutschland gelten. Doch das Bundesverfassungsgericht verwarf ein erstes Gesetz vor zwei Jahren. Seither streiten FDP und Union über die Frage, ob überhaupt und wenn ja, wie die europaweit umstrittene Richtlinie in deutsches Recht überführt werden soll. So favorisiert die Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ein Modell, wonach Internet- und Telefonverbindungsdaten nicht pauschal, sondern nur bei konkreten Anlässen gespeichert würden. Bei IP-Adressen von Computern sieht sie eine Speicherung von sieben Tagen vor. Doch Innenminister Friedrich lehnt das Kompromissangebot ab.

Im Sommer 2011 verfasste die EU-Kommission als »Hüterin der Verträge« ein erstes Mahnschreiben. In einem zweiten Schreiben setzte Brüssel der Bundesregierung eine letzte Frist. Als die verstrichen war, räumte die EU-Kommission der Berliner Koalition im März schließlich einen allerletzten Aufschub ein und erklärte ein Ultimatum: Demnach müsste sie die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung binnen eines Monats auf den Weg gebracht haben. Sonst landet eine Klage beim Gerichtshof. Das steht nun bevor.

Aktuell hat es die Bundesregierung in drei weiteren Fällen soweit kommen lassen, dass eine Verurteilung und damit verbundene Strafzahlungen drohen. Zum einen ist es der Streit um das so genannte VW-Gesetz, wo es um eine aus Brüsseler Sicht unzulässige Sperrminorität des Landes Niedersachsen geht. Zum anderen hat die Kommission vor wenigen Wochen in Luxemburg zwei Klagen gegen Deutschland wegen nicht umgesetzter Richtlinien im Eisenbahnsektor eingereicht.

Wie hoch die Geldstrafen in jedem dieser Fälle ausfallen könnten, schlägt die EU-Kommission bei der Einreichung der Klage vor. Dabei spielt unter anderem die Wirtschaftskraft des betroffenen Landes eine Rolle. Geldstrafen für Deutschland fallen daher immer höher aus als gegen kleine Staaten wie Litauen oder Malta. Die Luxemburger Richter können die beantragte Strafsumme nach ihrem Ermessen ändern. Doch bis im Fall der Vorratsdatenspeicherung überhaupt ein Cent den Eigentümer wechselt, muss der Gerichtshof die Klage der Kommission zunächst akzeptieren, dann behandeln und Deutschland tatsächlich verurteilen. Bis dahin können Jahre vergehen. Das erste Urteil könnte Deutschland überdies nur zwingen, die Richtlinie umzusetzen.

Bei anhaltender Renitenz des Mitgliedsstaats ist die EU-Kommission mit ihrer Macht am Ende. Eine europäische Zwangsvollstreckungsbehörde gibt es nicht. Auch andere Strafen, wie zum Beispiel der Ausschluss aus der Europäischen Union, sind in den EU-Gesetzen nicht vorgesehen. Zu dieser Eskalationsstufe ist es allerdings noch nie gekommen. Und bislang ist Deutschland - anders als Frankreich, Italien oder Spanien - auch noch nie zu Strafgeldern verurteilt worden.

In jedem Fall dürften noch einige Monate verstreichen, bis es wirklich ernst wird. Zeit, in der der Europäische Gerichtshof über die Frage zu befinden hat, ob die Vorratsdatenrichtlinie mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist. Zeit auch, in der die EU-Kommission die für Juni angekündigte Überarbeitung ihrer Vorgaben zur Datenspeicherung vorlegen dürfte.

Wegen des Dauerstreits rufen manche in der Union nun nach einem Machtwort der Kanzlerin. Ob es dazu kommt, ist schwer zu sagen. Vielleicht wird das Thema auch einfach der nachfolgenden Bundesregierung überlassen.

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