Zittern vor der Räumungspolizei
Ein Dach über dem Kopf wird in Frankreich zunehmend zum Luxus / Viele Zwangsräumungen stehen noch bevor
In La Courneuve, einer sozial schwachen Vorstadt im Norden von Paris, steht in der Mail Maurice de Fontenay der letzte Sozialwohnungsblock der einst berüchtigten »Siedlung der 4000«. Neben zahlreichen rechtmäßigen Mietern leben hier auch 20 afrikanische Familien illegal. Seit 29. März wurden bereits neun Familien aus ihren Wohnungen geworfen. Die übrigen versammeln sich jeden Morgen am Fuße des Wohnblocks und halten verängstigt nach Polizei und Umzugsautos Ausschau.
Aktivisten der Initiative »Droit au logement« (»Recht auf Wohnung«) stehen ihnen zur Seite, doch wenn die Polizei kommt, können sie nicht mehr tun, als symbolisch eine Zeit lang die Eingangshallen zu blockieren, bevor die Ordnungskräfte zum Teil brutal durchgreifen. Die afrikanischen Mütter werden zur Seite geschubst, ohne Rücksicht auf die auf den Rücken gebundenen Babys, Aktivisten werden beschimpft. Die Familien haben kaum Zeit, ihr bescheidenes Hab und Gut zu packen, da versiegelt die Polizei bereits die Tür. Sie wird in einigen Tagen wiederkommen. Niemand weiß, wer betroffen sein wird.
Eigentlich hätte man annehmen können, dass sich die französische Rechtsregierung in den Frühlingswochen vor der Präsidentschaftswahl hüten würde, ihr Image durch brutale Zwangsräumungen noch mehr zu schädigen. Das Gegenteil war jedoch der Fall: In mehreren Städten wurden bereits wenige Tage nach Ablauf der Winterpause die ersten Familien auf die Straße gesetzt. Mitte März ist die viermonatige Auszeit abgelaufen, die in Frankreich illegale Hausbesetzer oder Mieter, die ihre Wohnung nicht bezahlen können, vor Räumungen schützt. Laut Justizministerium wurden im Jahr 2010 rund 115 000 Räumungsurteile gefällt. Knapp 12 000 wurden im gleichen Jahr vollstreckt. Doch nach Schätzungen der Hilfsorganisation »Abbé Pierre« sind jedes Jahr mindestens 50 000 Haushalte gezwungen, ihre Wohnung zu verlassen - die wenigsten warten den erniedrigenden Polizeibesuch ab.
Die Bewohner des Hochhauses in der Mail Maurice de Fontenay, die nun vor der Polizei zittern müssen, sind alle afrikanische Einwanderer und leben seit mehreren Jahren hier. Sie haben sich integriert, ihre Kinder gehen in La Courneuve zur Schule. Die meisten haben eine Aufenthaltsgenehmigung und arbeiten.
Illegalität oft einziger Ausweg
Doch bietet ihnen Frankreich keine Möglichkeit, menschenwürdig zu wohnen. Ihre Anträge auf Sozialwohnungen blieben erfolglos, und ihre Gehälter sind zu niedrig, um die Bedingungen privater Vermieter zu erfüllen. Das Amt für Sozialwohnungen, dem das Gebäude gehört, erhob 2010 eine Räumungsklage gegen die Wohnungsbesetzer. Zugleich ließ es sich von ihnen über zwei Jahre hinweg eine Art Besetzungsentschädigung zahlen, welche viele fälschlicherweise für eine Miete hielten: bis zu 300 Euro pro Monat und Wohnung.
Lancinat war einer der ersten, der seine Wohnung verlassen musste. Er flüchtete 2006 von der Elfenbeinküste nach Frankreich, nachdem die Armee versucht hatte, ihn zu töten. Frankreich erkannte den Status des politischen Flüchtlings an und stellte ein Visum aus. Doch Anrecht auf eine Wohnung hatte er nicht. Man sagte ihm, man könne nichts für ihn tun, solange er nicht seine Familie nachkommen lasse. Doch auch als Lancinat seine Frau und die vier Kinder nach holte, änderte sich nichts. Er hatte keine andere Wahl, als mit seiner Familie illegal eine freie Wohnung in der Mail de Fontenay zu beziehen. Eines Morgens tauchte die Polizei bei ihm auf und trieb ihn aus der Wohnung.
Unter den Müttern, die jeden Tag um ihre Wohnung fürchten müssen, ist auch Kadiatou Traoré. Sie hat zwei Kinder, das jüngste ist auf ihren Rücken gebunden. Die Altenbetreuerin hat einen festen Arbeitsvertrag. Ihre Situation ist besonders kafkaesk, denn nach monatelangen Bemühungen wurde ihr Fall im April 2010 als vorrangig für das »einklagbare Wohnungsrecht« eingestuft. Das soll eigentlich garantieren, dass Personen in prekärer Lage innerhalb kurzer Zeit (maximal sechs Monate) eine neue Unterkunft besorgt wird. Seit zwei Jahren wartet sie vergeblich.
Daouda Bamba bringt an diesem Morgen seine Möbel in einer gemieteten Box unter. Er und seine Frau haben nach der Räumung in einer Nachbarstadt ein bezahlbares Hotelzimmer gefunden. Ihre zwei Kinder mussten sie wegen der Entfernung aus der Schule nehmen. »Was mir besonders weh tut, ist zu wissen, dass unsere Wohnung nun leer steht.«
Leerstand nach der Räumung
Denn es bestand kein Grund zur Eile. Anders als die anderen Gebäude der früheren Cité soll der Mail de Fontenay nicht abgerissen werden. Die Behörde, die die Sozialwohnungen verwaltet und die Zwangsräumungen beantragt hat, sagt, sie wolle die Wohnungen renovieren und neu vermieten. Dem widerspricht die Anzahl leerstehender Wohnungen im Hochhaus. »Und die Leute stehen auch nicht gerade Schlange, um hier einzuziehen«, spöttelt Marie, Aktivistin von »Droit au logement« und Ansprechpartnerin für die Familien. Sie zeigt auf die neuen dreistöckigen Wohngebäude in unmittelbarer Nähe, die mit dem hässlichen Hochhaus ästhetisch kontrastieren. »Auf ihren Plakaten hieß es damals stolz: ›Hier bauen wir 75 neue Sozialwohnungen.‹ Man hätte vielleicht hinzufügen sollen, dass zu diesem Zweck zuvor mehrere Hundert bestehende Sozialwohnungen dem Erdboden gleichgemacht wurden«.
Nach Untersuchungen der Hilfsorganisation »Abbé Pierre« leben in Frankreich 3,6 Millionen Menschen in unzureichenden Wohnverhältnissen. Aufgrund der mangelhaften Wohnungsbaupolitik fehlt rund eine Million Wohnungen. Um die Nachfrage zu decken und das Defizit abzubauen, müssten jedes Jahr etwa 500 000 neue Wohnungen gebaut werden - ein Niveau, das in den vergangenen Jahren nie erreicht wurde.
Vor allem der Bestand an Sozialwohnungen liegt derzeit noch weit unter den Bedürfnissen. Und dies einem Gesetz aus dem Jahr 2000 zum Trotz, das alle größeren französischen Kommunen dazu verpflichtet, mindestens 20 Prozent ihres Wohnungsbestands für Sozialwohnungen zu reservieren. Doch 37 Prozent der Städte kommen dem aktuell nicht nach. Vor allem die »gutbürgerlichen« nehmen lieber Strafzahlungen in Kauf. Im Gegenzug dazu sind nach Angaben des Statistischen Amts INSEE über zwei Millionen Wohnungen in Frankreich aus verschiedenen Gründen unbewohnt.
Recht auf Wohnung auch durchsetzen
»Droit au logement«, deren Aktivisten immer wieder mit spektakulären Hausbesetzungen auf die Not der Ärmsten aufmerksam machen, fordert, dass das Recht auf eine Wohnung »als Teil der sozialen Absicherung angesehen wird«, so Gründer Jean-Baptiste Eyraud im nd-Gespräch. Dafür bedarf es nicht einmal einer Revolution, betont der charismatische Aktivist: »Wir fordern im Grunde kaum mehr, als dass die bereits existierenden Gesetze auch wirklich angewandt werden. Das heißt, dass 20 Prozent des Wohnungsbestandes für Sozialwohnungen reserviert werden, dass das einklagbare Wohnungsrecht umgesetzt wird und dass die Bürgermeister von ihrem Recht Gebrauch machen und leer stehende Wohnungen vorübergehend beschlagnahmen und zur Neuvermietung frei geben.« Zudem fordert die Organisation die Begrenzung der Mieten durch die Regierung und dass Verbot von Zwangsräumungen, wenn keine alternative Unterbringung angeboten werden kann.
Als die Polizei Lancinats Wohnung räumte, geriet er in Panik. »Zum Glück waren die Kinder in der Schule und haben das nicht mit ansehen müssen«, erzählt er gegenüber »nd«. Seine Kinder wohnen derzeit bei Bekannten. Er und seine Frau haben noch keine Lösung gefunden; in manchen Nächten bleibt nur die Straße.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.