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Sollen Schüler Hitler lesen?
Marianne Demmer ist Vizevorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
Demmer: Eigentlich nein. Wir sind bisher gut damit gefahren, dass wir diesen Mist nicht auf dem Markt haben. Mit dem Erlöschen der Rechte wird »Mein Kampf« aber wohl ein Werk der Zeitgeschichte. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als Strategien zu überlegen, wie man vernünftig damit umgeht.
Die bayerische Landesregierung will nun eine kommentierte Ausgabe von »Mein Kampf« finanzieren und herstellen. Bisher hat man in Bayern alles dafür getan, damit dieses Buch nicht erscheinen kann.
Mir erscheint es schwer nachvollziehbar, wie man mit dieser Maßnahme verhindern will, dass künftig der Markt mit wer weiß welchem Zeug bedient wird. Wenn die Menschen das Buch nicht wollen, dann werden sie es nicht kaufen. Und wenn sie es wollen, dann werden sie sich die billigste Ausgabe heraussuchen und gewiss nicht die wissenschaftlich kommentierte.
Vorgesehen ist, dass Schüler im Unterricht eine kommentierte Ausgabe von »Mein Kampf« lesen. Halten Sie das für sinnvoll? Erfährt die Schrift so nicht eine unverdiente Aufwertung?
Durch die Lektüre von kommentierten Werken, in dem Fall: von kommentierten Schwarten wie »Mein Kampf«, werden Schülerinnen und Schüler nicht davon abgehalten, irgendwas, was in diesen Büchern steht, zu glauben oder nicht zu glauben. Das ist eine illusorische Vorstellung bezüglich der Wirkmächtigkeit von Kommentierungen.
Glauben Sie, dass ein Publikationsverbot für »Mein Kampf«, wie es bisher gehandhabt wird, möglicherweise das Interesse an dem Buch erst entstehen lässt, weil man es tabuisiert?
Bisher habe ich es so wahrgenommen, dass durch die Tabuisierung nur bei Jugendlichen, die sowieso eine Affinität zu rechtem Gedankengut entwickelt haben, ein Interesse ausgelöst wurde. Die haben sich natürlich auch für »Mein Kampf« interessiert und sich dieses Buch beschafft. Bei der Mehrheit der Bevölkerung hat die Tabuisierung nicht zum gesteigerten Interesse geführt, zumindest habe ich das in den Schulen nicht beobachtet. Andererseits: Jugendliche mit rechtsextremen Neigungen sind in der Regel keine Leser, die ihre Freizeit damit zubringen, sich durch endlos dicke Bücher zu arbeiten.
Jahrzehntelang hat man das Buch unter Verschluss gehalten. Jetzt heißt es, es müsse dringend »entmystifiziert« werden. Was ist von dem Sinneswandel zu halten?
Das Buch hat schon zu Hitlers Zeiten im Bücherschrank gestanden, ist aber nicht wirklich gelesen worden, nur von einer kleinen Funktionärsschicht. Daher bin ich mir nicht sicher, ob das Verbot nicht nützlich gewesen ist. Tabus wie dieses sind immer starke Signale an die Mehrheitsgesellschaft, was politisch unerwünscht ist. Nach meiner Erfahrung hat die Tabuisierung von »Mein Kampf« dazu geführt, dass die Leute sich das nicht in den Bücherschrank gestellt haben. Dass sich bestimmte Leute nicht darum scheren und sagen: »Jetzt erst recht«, das ist eine andere Sache. Insgesamt hatte ich den Eindruck, das Nachdruckverbot hat uns eigentlich über die letzten 50 Jahre getragen.
Interview: Thomas Blum
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