Freie Wahl des Geschlechts in Argentinien

Parlament verabschiedet ein weltweit einmaliges Gesetz

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 2 Min.
In Argentinien darf künftig jede und jeder selbst das eigene Geschlecht bestimmen - ganz ohne Hormonbehandlung oder Chirurgie. Es ist ein weltweit einmaliges Gesetz

»Wir sind nicht mehr die Vergessenen der Demokratie.« Marcela Romero ist zufrieden. Mit Gleichgesinnten war die Vorsitzende der argentinischen Transvestiten-, Transsexuellen- und Transgeschlechtervereinigung vor den Kongress in Buenos Aires gezogen, um auf die Abstimmung zum »Gesetz über die Geschlechteridentität« zu warten.

Am Mittwochabend votierte der Senat mit 55 Stimmen dafür, 17 Senatoren enthielten sich. Da das Abgeordnetenhaus bereits im November zugestimmt hatte, brandete vor dem Kongress Jubel auf. Künftig kann in Argentinien jede und jeder ihre und seine Geschlechtszugehörigkeit frei bestimmen. Sie wird laut Gesetz allein durch das innere und individuelle Erleben des Geschlechts bestimmt, so »wie es jede Person fühlt«. Auch der bisher notwendige medizinische Nachweis einer Geschlechtsumwandlung ist abgeschafft. Die Meldestellen müssen Änderungen in Geburtsurkunden und Ausweispapieren gratis vornehmen.

Vorbei die Zeiten, da die Betroffenen in langwierigen Prozeduren die Änderung ihres Namens und des Geschlechts im Personenregister durchfechten mussten. Zehn Jahre musste Marcela Romero juristisch um ihre Anerkennung als Frau kämpfen. »Damit ist jetzt Schluss«, sagt die 48-Jährige, die mit ihrer Organisation an der Ausarbeitung des Gesetzes mitgewirkt hat.

Minderjährigen garantiert das Gesetz ebenfalls die freie Geschlechterwahl. Sollten Eltern oder andere Erziehungsberechtigte die Zustimmung verweigern, kann die minderjährige Person einen sogenannten »Kinderanwalt« anrufen. Öffentliche und private Krankenversicherungen werden zur Kostenübernahme für geschlechtsverändernde Behandlungen und Eingriffe verpflichtet.

Die peronistische Senatorin Sonia Escudero malte dennoch ein düsteres Bild. Über 90 Prozent der Transsexuellen arbeiten in der Prostitution. Wer sich zur transsexuellen Gemeinschaft zählt, habe eine Lebenserwartung von 35 Jahren. »Die Zahlen zeigen, dass 95 Prozent der landesweit geschätzten 22 000 Personen keinen Zugang zu fundamentalen Menschenrechten haben«, klagte die Senatorin.

Für Justus Eisfeld von der New Yorker Global Action for Trans Equality ist das argentinische Gesetz vorbildlich: »Die Tatsache, dass keinerlei medizinische Anforderungen gestellt werden, wie Chirurgie, Hormonbehandlung oder auch nur eine Diagnose, ist weltweit einmalig.«

Dass Präsidentin Cristina Kirchner das Gesetz mit ihrer Unterschrift in Kraft setzt, daran zweifelt niemand. »Diese Präsidentin ist die erste, die uns den Platz gegeben hat, der uns zusteht«, lobt Malva, die mit ihren 90 Jahren als älteste Transvestitin des Landes gilt. Sie selbst werde ihre Ausweise jedoch nicht mehr ändern lassen. »Auf der Straße begrüßen sie mich mit Señora, am Bankschalter mit Señor.« Ihr mache das schon lange nichts mehr aus. Das Gesetz sei aber wichtig für die kommende Generation. »Auf dass sie alles genieße, was wir nicht genießen durften.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.