Die Fußball-WM produziert Obdachlose
Raquel Rolnik über fehlende Stadtentwicklungspolitik in Brasilien in Sicht auf sportliche Großereignisse
nd: Frau Rolnik, an den zwölf Austragungsorten der Fußball-WM 2014 herrscht Goldgräberstimmung und die Weltfußballvereinigung FIFA drängt zur Eile. Was bedeutet das für die Stadtplanung in Brasilien?
Raquel Rolnik: Theoretisch hätte man so ein Großereignis nutzen können, um lange Geplantes umzusetzen. Leider wird das in Brasilien nicht getan. Hier wird spontan interveniert, alles hängt von der Interessenkonstellation ab, die sich um ein bestimmtes Projekt herum bildet. Aber eigentlich gab es für die WM überhaupt kein Projekt. Auch das erklärt diese langen Verzögerungen.
Sie selbst waren jahrelang im Bundesstädteministerium tätig und haben sich für partizipative Stadtplanung eingesetzt.
Ja, das war in der ersten Amtszeit von Präsident Lula, von 2003 bis 2006. Doch die Kommunen sind dabei auf Bundesmittel angewiesen. Diese Mittel wurden aber nicht für die Umsetzung dieser Planungen verwendet. Und 2005 hat Lula das Ministerium an eine kleine rechte Partei, die Partido Progessista, übergeben. Das war der Gnadenstoß, seitdem ist das Ministerium nur noch eine Geldverteilungsstelle. Auf Bundesebene findet eine Debatte über Stadtpolitik nicht mehr statt. Die schwierigen Anfänge einer gemeinsam mit den Betroffenen erstellten Stadtplanung sind also durch die Regierung Lula unterminiert worden.
Mit welchen Folgen?
All das, was jetzt im Zusammenhang mit der WM passiert, hat nichts mehr mit partizipativer Planung zu tun. Alles wird flexibilisiert. In der Regierung hat die Arbeiterpartei PT ihr historisches Engagement für die urbane Reform aufgegeben, die Vorstellungen von Mitbestimmung, Kontrolle von unten, Regulierung von Besitztiteln. Sie hat sich der politischen Kultur Brasiliens angepasst, der Vetternwirtschaft. Zentral sind die Beziehungen zu großen Wirtschaftsinteressen, die die Wahlkampagnen finanzieren.
Was bedeutet das im Hinblick auf die WM und Olympia 2016 in Rio de Janeiro?
Man kann das nicht mit der WM in Deutschland oder der Olympischen Spiele in London vergleichen. In Barcelona, Deutschland oder London leben vielleicht fünf Prozent sehr prekär, auch wenn es tendenziell mehr werden. In Südafrika und in Brasilien haben die großen Mehrheiten noch nicht das urbane Mindestniveau erobert. Die WM und Olympia bieten eine Chance zur Intervention, aber die droht verspielt zu werden.
Warum?
In den WM-Städten sind Zehntausende Familien von Zwangsumsiedlungen bedroht, oft erhalten sie lächerliche Entschädigungen. Es werden mehr Obdachlose produziert. Wenn Menschen für Straßen, Flughäfen oder im Umfeld von Stadien umgesiedelt werden, ohne dass sie gleichwertigen Wohnraum bekommen, wachsen die Armenviertel. Wenn du nicht genug Geld für ein neues Haus bekommst, besetzt du Land an der Peripherie.
Eine ausweglose Situation?
Nein. In Indien, wo 2010 die Commonwealth Games stattfanden, ist die Lage absolut schockierend. In Brasilien war eigentlich schon Schluss mit dem Abräumen von Armenvierteln, das Motto hieß Urbanisierung, Regulierung, dazu gibt es auch einen juristischen Rahmen und konkrete Beispiele. Brasilien steht also vergleichsweise gut da. Aber jetzt habe ich die Befürchtung, dass es rückwärtsgeht. Es ist unglaublich, aber es geht vor allem um Geschäfte, den Ausbau von Flughäfen, Straßen, Hotels, alles für die Touristen. Darüber informiert man sich in anderen Ländern, aber um Menschenrechtsverletzungen geht es nur am Rande. Dabei müssten wir uns genau ansehen, was in Südafrika rund um die WM 2010 passiert ist, und uns so organisieren, dass sich das hier nicht wiederholt.
Nun gibt es in fast allen Städten Widerstandsgruppen, vor allem gegen die Zwangsumsiedlungen. Was können die bewirken?
Noch kann dieser Druck von unten zu Kurskorrekturen führen, viele Teilprojekte stehen ja noch am Anfang. Die lokalen Basisgruppen fordern, dass diese WM in punkto Menschenrechte und Umweltschutz neuen Maßstäbe setzt. In São Paulo oder Porto Alegre haben sie im Gespräch mit den örtlichen Behörden Teilerfolge erzielt. Wenn nicht diese Gruppen die Anliegen der Betroffenen auf die Tagesordnung setzen, macht das niemand. Die traditionellen Bewegungen für Wohnraum sind voll und ganz damit beschäftigt, Mittel des großen Bundesprogramms für sozialen Wohnungsbau zu organisieren. Sie waren in den 80er Jahren viel stärker als heute. Auch die internationalen Mittel für sie, etwa über Nichtregierungsorganisationen, werden immer weniger. In Sachen Transparenz und Bürgerkontrolle entstehen größere Allianzen bis ins Unternehmerlager hinein. In São Paulo wird das Instituto Ethos aktiv, das sind fortschrittliche Unternehmer.
Dilma Rousseff ist eine linke Präsidentin, die mit Neoliberalismus wenig am Hut hat. Warum gelingt es der Regierung dennoch nicht, eine sozial- und umweltverträgliche WM hinzubekommen?
Einerseits wird viel in Sozialprogramme investiert, für arme Familien oder in den sozialen Wohnungsbau; das steht klar im Widerspruch zur neoliberalen Agenda. Andererseits aber scheint bei den Großevents genau diese Agenda umgesetzt zu werden. Die WM-Städte werden in Spielwiesen für das Großkapital verwandelt. Die Neoliberalismus ist tot, aber dominant, sagt der schottische Soziologe Neil Smith: So ist es tatsächlich. Die Präsidentin will durch Wirtschaftswachstum das Elend beseitigen, aber darüber hinaus läuft nichts. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir im Land und im Parlament eine konservative Hegemonie haben. Das brasilianische Modell ist sehr schizophren.
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